"Wasteland": Das postapokalyptische Rollenspiel aus dem Jahr 1987 ist einer der geistigen Vorgänger der "Fallout"-Reihe.

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"Ultima V": Der ewige Klassiker "Ultima V" (1988) fasziniert auch nach fast einem Vierteljahrhundert.

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"Starflight": 1986 erschien mit "Starflight" ein umfangreicher Klassiker des SF-Rollenspiels.

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"Bardstale": "The Bard's Tale" (1985) nötigt Spieler zum händischen Kartografieren.

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Manche Hobbys können ganz schön zwanghaft werden. Als Chester Bolingbroke im Jahr 2009 nach 72 Stunden pausenlosen Spielens mit roten Augen und schlechtem Gewissen aus der Fantasywelt von "The Elder Scrolls: Oblivion" auftauchte, fasste er angeekelt einen Entschluss: Es sollte endgültig vorbei sein mit der fatalen Faszination, die Computerrollenspiele, kurz CRPGs, seit seiner Jugend am C64 fast ungebrochen auf ihn ausübten. Reumütig sagte er der Welt der digitalen Erfahrungspunktejagd adieu - doch nicht für immer. Drei Wochen Entzugserscheinungen genügten, um eine andere Bewältigungsstrategie ins Spiel zu bringen: Wenn schon der Lockruf des CRPG so stark war, dann wollte er seiner Passion wenn schon, dann richtig erliegen. Auf seiner Website CRPGaddict dokumentiert Bolingbroke seit Anfang 2010 ein wahnwitziges Mammutprojekt: Beginnend mit "Akalabeth", dem Urvater der "Ultima"-Reihe aus dem Jahr 1979, spielt er sich chronologisch in der Geschichte des CRPGs bis in die Gegenwart.

Einzigartiges Games-Archiv

Heute, über zwei Jahre und stolze 75 (!) Spiele später, ist der Games-Archäologe bei "The Magic Candle" im Jahr 1989 und damit noch lange nicht am Ende angelangt. Seine Seite dokumentiert dabei akribisch die Eigenheiten jedes einzelnen getesteten Spiels in Text, Bild und Video und ist somit dabei, ein einzigartiges Dokumentationsarchiv eines ganzen historischen und auch heute noch quicklebendigen Spielgenres zu werden - ein Archiv, das auch so manchem der in letzter Zeit eröffnenden Games-Museen oder -Ausstellungen, wie etwa jenem des Smithsonian American Art Museum in Washington oder dem Computerspielemusum in Berlin zur Ehre gereichen würde.

Cheats und Walkthroughs sind tabu

Die Regeln, die sich der Enddreißiger aus Massachussetts dabei selbst auferlegt hat, sind strikt: In Frage kommen nach strengen Auswahlkriterien definierte Computerrollenspiele für DOS oder Windows, Cheats und Walkthroughs sind tabu. Ziel ist es, jedes Spiel bis zum Ende, minimal aber sechs Stunden lang zu spielen und zu dokumentieren. Bolingbroke, der in Wirklichkeit anders heißt und diesen "Künstlernamen" zur besseren Abgrenzung seines realen Lebens vom virtuellen gewählt hat, bedient beileibe nicht das alte Klischee eines zwanghaften Spielefreaks: Er ist beruflich erfolgreich, hat Frau und Kind, ist sportlich und hat einen gut bezahlten Job, der im Monat 20 Reisetage und manchmal auch 14 Stunden Arbeit pro Tag bedeutet - alles nicht unbedingt Merkmale des Klischeecomputerspielers. Die hohe Frequenz an Geschäftsreisen und Abenden in Business-Hotels bieten dafür aber Gelegenheit genug für Reisen in die Games-Geschichte.

Spielehistoriker aus Zufall

Bolingbrokes Mammutprojekt, das wohl noch Jahre bis zur Vollendung brauchen wird, ist aber mehr als eine Übung in Nostalgie. "Der Spaß am Spiel steht für mich bei meinem Projekt im Vordergrund. Ich behaupte, dass man mit diesen historischen Spielen genau so viel Spaß haben kann wie mit aktuellen Titeln", beschreibt er im Email-Interview seine Motivation. Durch sein obsessives Dokumentationsprojekt ist Bolingbroke zugleich beinahe zufällig zum Spielehistoriker geworden, der den historischen Spielen so ein virtuelles Museum errichtet. Und natürlich lässt sich an diesen Titeln, die Produkte ihrer Entstehungszeit sind, auch so einiges an tatsächlicher Geschichte ablesen: "Fantasy-Spiele sind eher zeitlos, aber an Science-Fiction-Rollenspielen wie ‘Wasteland' (1987) spiegelt sich viel von Kalter-Kriegs-Angst wider, und ‘Sentinel Worlds' (1989) oder ‘Starflight' (1986) sind stark von der Popkultur ihrer Zeit geprägt."

"Bei klassischen Spielen musste man selbst von Hand Karten zeichnen, sich Notizen machen und Puzzles noch auf dem Papier austüfteln. Das war für mich immer Teil des Reizes an diesem Genre. Aktuelle Rollenspiele nehmen die Spieler hingegen viel zu sehr an der Hand."

In den über dreißig Jahren, die zwischen den ersten Computerrollenspielen und aktuellen Genre-Blockbustern wie "The Elder Scrolls: Skyrim" liegen, hat sich vieles geändert - vor allem der Anspruch an den Spieler selbst. Ältere Semester können sich mit Sicherheit noch an Schulhefte voller selbst kartografierter Kerker und kryptische eigenhändige Aufzeichnungen zu den jeweiligen Titeln erinnern. Diese Herausforderung vermisst der Games-Historiker Bolingbroke bei heutigen Spielen: "Bei klassischen Spielen musste man selbst von Hand Karten zeichnen, sich Notizen machen und Puzzles noch auf dem Papier austüfteln. Das war für mich immer Teil des Reizes an diesem Genre. Aktuelle Rollenspiele nehmen die Spieler hingegen viel zu sehr an der Hand."
Dafür hätten sich natürlich unbestritten im Lauf der Jahre aber auch große Fortschritte gezeigt: "Vor allem Umfang und Offenheit neuerer Spiele sind, neben den unglaublichen Entwicklungen bei Grafik und Sound, ein großer Fortschritt. Die Klassiker bieten - auch wenn man das vielleicht subjektiv anders in Erinnerung haben mag - meist nur eine einzige Haupt-Quest und ein einzelnes Ende und waren überhaupt viel weniger umfangreich."

Zurück in die Zukunft?

Neben seinen persönlichen Favoriten - "Ultima V", "Might & Magic I", "Pool of Radiance" und "Starflight" - sähe Bolingbroke vor allem einen besonders berühmten Veteranen der Games-Geschichte gerne wieder im Rampenlicht der aktuellen Games-Industrie: Richard Garriott alias Lord British, der mit seiner "Ultima"-Reihe zeitlose Meilensteine des Genres geschaffen hat. Besonders "Ultima IV" würde Bolingbrokes Meinung nach als Remake mit zeitgemäßer Grafik und Interface auch 2012 noch gute Figur machen - ob allerdings das tatsächlich im Juli von Bioware angekündigte Free2Play-Remake "Ultima IV- Quest of the Avatar" dem Original im Sinne des Spielearchäologen gerecht wird, ist mehr als ungewiss. Der vor allem bei der Spielecommunity beliebte Trend zur - oft rechtlich ungesicherten - Neuauflage spielgeschichtlicher Meilensteine - aktuell etwa das gelungene Remake von "Half-Life", "Black Mesa" - zeigt, dass die großen Namen der Vergangenheit in der Spielerschaft trotz ständig neue Hypes fabrizierender PR-Maschinerien durchaus nicht ganz in Vergessenheit geraten.

"Ein wirklich großartiges Spiel bleibt großartig"

Letztlich braucht es aber gar keine stromlinienförmig dem aktuellen Massengeschmack angepasste Remakes, um die Klassiker zu genießen, meint zumindest Chester Bolingbroke: "Ein gutes Computerrollenspiel ist im Grunde nicht so sehr von der Technologie abhängig. Ein wirklich großartiges Spiel bleibt großartig, auch wenn Grafik und Sound natürlich nicht mehr den technischen Möglichkeiten der Gegenwart entsprechen. Es ist wie beim Film: Auch ‘Casablanca' ist ja nicht deswegen ein schlechter Film, weil er ‘nur' in Schwarz-Weiß gedreht wurde. Gute Spiele transzendieren die Technologie." (Rainer Sigl, derStandard.at, 17.9.2012)