Ilmars Mezs düstere Prognose für Lettland: "In fünfzig bis hundert Jahren werden hier nur mehr sehr wenige Menschen leben."

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Ein Drittel der Letten muss mit dem Mindestgehalt auskommen. Davon zu überleben ist nahezu unmöglich.

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Dieser Bericht wurde im Rahmen von Eurotours 2012 erstellt. eurotours ist ein Projekt der Europapartnerschaft, finanziert aus Gemeinschaftsmitteln der EU.

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derStandard.at: Lettland wird innerhalb der EU als Vorzeigebeispiel für gelungene Sparmaßnahmen angepriesen. Immer mehr Leute kritisieren allerdings, dass die harten Einschnitte und die Geldentwertung das Land aus demographischer Sicht langfristig bedrohen könnten. Würden Sie dem zustimmen?

Mezs: Auf jeden Fall. Wenn der Status Quo sich fortsetzt, also die Emigration auf hohem Niveau bleibt und die Geburten- und Todesrate niedrig bleiben, dann werden wir pro Jahr um ein bis zwei Prozent schrumpfen. In fünfzig bis hundert Jahren werden dann tatsächlich nur mehr sehr wenige Menschen hier leben.

Wenn man Lettland und Estland vergleicht, beides zwei kleine Länder, dann sieht man, dass wir eindeutig hinten nachhinken. Estland kriegt das besser hin - die Emigration niedrig zu halten und die Geburtenrate zu erhöhen. Bis vor zehn Jahren waren wir wie Zwillingsbrüder, was sämtliche demographische Daten anging. Dann hat Lettland einen anderen politischen Weg eingeschlagen.

In Estland werden doppelt so viele Gelder in junge Familien investiert wie hier. Das wirkt sich natürlich auf die Geburtenrate aus. Auch während der sogenannten "fetten Jahre" 2006 und 2007 haben lettische Politiker gerne mit den Wachstumsraten angegeben, aber keinen Sicherheitspolster angelegt im Gegensatz zu Estland. Wenn wir 10 Prozent gewachsen sind, gab es trotzdem ein Defizit bei den Staatsausgaben. Als die Krise dann da war, ist Estland nicht so stark abgestürzt. Wir sind hinter Estland zurückgefallen und das ist nach wie vor so.

Ich kann also nicht verstehen, wenn die Wachstumsraten jetzt hier hochgelobt werden. Wir haben in einem Jahr 18 Prozent unseres BIPs verloren. Ich glaube da gibt es zumindest in Europa keine vergleichbaren Abstürze. Das heißt, auch wenn wir jetzt seit drei Jahren um sechs Prozent wachsen, stehen wir trotzdem noch ganz am Anfang. 

derStandard.at: Also würden Sie Lettland nicht als Vorbild sehen, was die Bewältigung der Wirtschaftskrise anlangt?

Mezs: Die wichtigen Maastricht-Kriterien betreffend Inflation und Budgethaushalt erfüllen wir wieder exzellent, aber es passiert auf Kosten des durchschnittlichen Bürgers in Lettland. Die Mehrheit dieser harten Maßnahmen lastet auf den Schultern der armen Leute. Wir zahlen einen zu hohen Preis für die guten Wirtschaftszahlen, auch wegen der hohen Emigration.

Die meisten, die auswandern, sind zwischen 20 und 40 Jahre alt. Sie müssen sich vorstellen, wir haben in den letzten paar Jahren mehr als ein Viertel der Leute in dieser Altersgruppe verloren. Mehr als ein Viertel! Es wäre dringend nötig, dass das auch von der Politik endlich explizit adressiert wird und nach Lösungen gesucht wird. Manchmal wünsche ich mir, wir würden etwas mehr Verhalten an den Tag legen, wie es die Griechen tun. Von ihnen können wir noch einiges lernen.

derStandard.at: Die lettische Regierung ist wahrscheinlich einfach froh, dass sie gute wirtschaftliche Zahlen präsentieren kann, oder?

Mezs: Diese Zahlen müssen immer in Zusammenhang mit der Emigration betrachtet werden. Wenn hunderttausende Leute ohne Job, ohne Einkommen und nach kurzer Zeit auch ohne Arbeitslosengeld dastehen und tatsächlich nicht einmal mehr etwas zu essen haben, dann ist das natürlich ein Zustand, in dem sie regelrecht dazu gezwungen werden, auszuwandern.

Es müssten zum Beispiel Risiken besser gestreut werden. Wenn ich einen Kredit haben will in Lettland, dann übernehme quasi nur ich als Kreditnehmer das Risiko. Die Banken gehen fast kein Risiko ein, falls es Probleme gibt. Einer meiner Kollegen arbeitet jetzt in Dänemark, um seine Schulden abzuzahlen. Er will eigentlich nach Lettland zurück, aber er kann hier keinen Job mit gutem Gehalt finden, um den Kredit zu begleichen.

derStandard.at: Das Problem sind also nicht nur die fehlenden Jobs sondern auch die schlechten Gehälter?

Mezs: Ein Drittel der Letten verdient nur das Mindestgehalt, das derzeit bei 200 LATS liegt (287 Euro). Versuchen sie einmal davon zu leben. Speziell in der Hauptstadt Riga gäbe es eigentlich genug Jobs und Jobangebote. Es ist nur so, dass sie einfach extrem schlecht bezahlt sind. Das gilt auch für Ärzte, Lehrer und Berufe, wo man einen höheren Bildungsabschluss benötigt. Sie alle müssen für unter 400 oder 500 Euro arbeiten.

Natürlich ist unser Preisniveau nicht so hoch wie in den europäischen Kernländern, aber jemand der sich einen guten Lebensstandard leisten will, muss dafür trotzdem fast gleich viel Geld hinlegen. Nur wenn man nie in ein Restaurant geht, nie neue Kleidung kauft, nie in den Urlaub fährt, sondern stattdessen billige Kartoffeln isst, die man selbst anbaut oder bei Verwandten kauft, kann man überleben. Das ist jetzt für viele der Standard.

derStandard.at: Der Staat unterstützt also Bedürftige nicht ausreichend?

Mezs: Eine Person, die ihren Job 2009 verloren hat, hört natürlich, was in anderen westlichen Ländern an sozialer Absicherung vorhanden ist. Das ist sicher nicht mit dem hier vergleichbar, was wir in Lettland haben. Natürlich regt auch das den Wunsch nach Auswanderung an.

Andererseits wird hierzulande das Geld für Projekte ausgegeben, die in der Form nicht nötig wären. Zum Beispiel den Bau einer Brücke in Riga, die von vielen auch "goldene Brücke" genannt wird. Das ist einer der teuersten Brückenbauten der Welt. Für ein neues Gebäude des Finanzamtes werden 38 Millionen LATS ausgegeben. Und die Parlamentarier bekommen noch ein zusätzlichen Standort, obwohl es schon vier gibt. An die jungen Familien in Lettland denkt hingegen niemand.

derStandard.at: Wie sieht es für private Unternehmer aus? Gibt es genügend Anreize vom Staat, um etwas zu riskieren?

Mezs: Wenn man zum Beispiel ein neues Unternehmen mit zwei, drei Arbeitnehmern irgendwo am Land aufbaut, dann kommen die staatlichen Inspektoren in Scharen angelaufen. Deren Überprüfungen beinhalten dann meistens nicht Empfehlungen und Anregungen, was verbessert werden müsste. Sondern es werden sofort Strafgelder für dieses und jenes verrechnet.

Ich kenne eine lettische Familie, die im Besitz eines Bauernhofes war und dort auch einige Zimmer an Touristen vermietete. Diese Touristen haben natürlich auch ein Frühstück dort erwartet. Aber eine Richtlinie besagt, dass es verboten ist Essen zu servieren, wenn die Küchen den hohen Qualitätsstandards nicht genügen.

Diese Standards sind so hoch, die konnte dieser Bauernhof gar nicht erfüllen. Im Endeffekt ist diese Familie nach Irland ausgewandert, führt dort jetzt ebenfalls einen Bauernhof mit einigen Gästezimmern. Die Inspektionen der Iren waren bis dato kein Problem für sie. Unsere Bürokraten pochen sehr auf die europäischen Standards und ignorieren, die negativen Folgen, die das hat.

derStandard.at: Sind die Gebiete in der Nähe der russischen Grenze besonders von der Abwanderung betroffen?

Mezs: Man kann jeden Indikator hernehmen, z.B. Arbeitslosenrate oder Durchschnittsgelder. Je größer die Distanz zur Hauptstadt, desto schlechter sind die Zahlen. Die Leute, die noch in diesen Gebieten wohnen, sind jene, die keinerlei Ausbildung haben bzw. arbeitsunfähig und alkoholsüchtig sind. Manche Gebiete in Lettland haben über die letzten zehn Jahre hinweg ein Drittel ihrer Bevölkerung verloren.

derStandard.at: Was würden Sie der Regierung raten, um die Situation und insbesondere die hohe Emigrationsrate in den Griff zu bekommen?

Mezs: Wir sollten uns tatsächlich ein Beispiel an Estland nehmen. Dort werden junge Familien besser gefördert und unterstützt. In Lettland waren die Pensionisten die einzige Gruppe, die von den harten Einschnitten verschont blieb. Sie mussten die Sparmaßnahmen nicht mittragen, sind aber eine der größten Gruppen. Stattdessen musste die arbeitende Bevölkerung die Last tragen und insbesondere die jungen Familien, denen Kindergeld und Karenzgeld gekürzt wurde.

derStandard.at: Gibt es auch Letten, die wieder zurückkehren?

Mezs: Immer wieder. Man glaubt es nicht, es gab auch während der Sowjetzeit genug Leute, die aus den USA und Deutschland zurückkehrten, einfach weil sie dort nicht leben konnten. Die Statistiken zeigen, dass heute circa 10 bis 20 Prozent zu irgendeinem Zeitpunkt wieder zurückkehren. Das ist eine sehr, sehr niedrige Quote. Wir müssten mehr tun, um diese Leute wieder dazu zu bewegen, zurückzukommen.

Litauen ist ein gutes Beispiel. Litauen hat eine eigene Institution, die sich um die Emigranten kümmert. Dort gibt es eigene Schulen, die sich um Kinder kümmern, die zurückkommen nachdem sie drei, vier Jahre mit ihren Eltern im Ausland waren. Das bräuchten wir hier. Aber es braucht eine gute Balance. Die, die hier geblieben sind, dürfen nicht glauben, dass die Emigranten bevorzugt und speziell unterstützt werden.

derStandard.at: Warum wurde die Regierung, die alle diese harten Sparmaßnahmen durchgeführt hat, 2011 überhaupt wiedergewählt?

Mezs: Weil die Regierung davor sehr korrupt war. Und die neue Regierung versucht das tatsächlich zu ändern. Unser jetziger Premierminister ist der erste, der ausschließlich von seinem Gehalt als Politiker lebt. Es gibt keine großen Unternehmen, an denen er beteiligt ist. Die Letten haben ihn und seine Partei nicht gewählt, weil sie die Sparmaßnahmen so toll fanden, sondern weil sie es goutieren, dass die Korruption weniger geworden ist. (Teresa Eder, derStandard.at, 25.9.2012)