In einem STANDARD-Interview mit dem Politologen Markus Linden wird Bürgerbeteiligung generell und das Modell der "Liquid Democracy" im Speziellen kritisiert und abgetan: Die Beteiligung sei zu gering, gebildete Menschen und Netzthemen würden überrepräsentiert - und überhaupt sei klar, dass das Volk nur beraten, niemals aber entscheiden dürfe.
Kein Wunder, das Vertrauen in Politik ist dahin
Diese Kritik an neuen Beteiligungsmodellen kommt ausgerechnet zu einer Zeit, in der ein Korruptions- und Machtmissbrauchsskandal den nächsten jagt, als hätte der Graf höchstpersönlich dazu geladen. Mit Händen und Füßen wehren sich die Parteien gegen Transparenz und Aufklärung: Der Untersuchungsausschuss wird sabotiert, in Kärnten blockieren die Blauen mit absurdestem Schauspiel, damit die Bürgerinnen und Bürger nicht zu Wort kommen, während Strache anderswo noch von "Dem Volk sein Recht"-Plakaten grinst.
Wie kann man da nicht die Systemfrage stellen? Wer kann da noch glauben, dass die Interessen der Bürgerinnen und Bürger allein dadurch in Zukunft besser vertreten werden, dass rechtskräftig Verurteilte zähneknirschend ausgetauscht werden, hehre Worte auf geduldiges Verhaltenskodex-Papier gebracht werden oder sich der reiche Onkel aus Übersee als Quereinkäufer ins Spiel bringt?
Das Vertrauen in die aktuelle Funktionsweise von Politik ist mit gutem Grund nachhaltig erschüttert, und der nächste Urnengang wird da nichts ändern. Jedes Experiment, das System in Richtung Transparenz und Mitbestimmung umzubauen, um Machtmissbrauch zu erschweren und mehr Menschen konstruktiv einzubeziehen, ist nicht nur wünschenswert, sondern dringend nötig. Das vielversprechendste dieser Experimente heißt "Liquid Democracy".
Die Stimme delegieren
Liquid Democracy ist eine Mischform aus direkter und repräsentativer Demokratie, die breitere Partizipation ermöglicht, ohne Beschlüsse zu lähmen. Durch das zentrale Konzept der Stimmdelegation kann man sich erstmals differenziert vertreten lassen, beispielsweise so: "Für Netzpolitik möchte ich gerne durch die Piratenpartei, für Umweltrecht durch die Organisation Greenpeace und für Schulpolitik durch die Privatperson Frau Mayer vertreten werden. Für die Entscheidung über das neue Universitäts-Zulassungsgesetz möchte ich aber selbst abstimmen."
Empfänger solcher Delegationen können das übertragene Stimmrecht dann selbst wahrnehmen oder gegebenenfalls wiederum weiterdelegieren. Einzelne können stets nachvollziehen, was mit ihrer Stimme schlussendlich passiert, und die Delegation jederzeit ändern. Alle Teilnehmer können Initiativen, Gegenanträge und Verbesserungsvorschläge einbringen. Dass sich der Prozess insgesamt pro Thema über mehrere wochenlange Phasen erstreckt, kühlt emotional aufgeladene Debatten und vermindert populistische Anlassgesetzgebung. Die Abstimmung am Ende ist keine bloße Entweder-oder-Frage, sondern eine Reihung der Alternativen nach Präferenz.
Der Unterschied zu "Bürgerbeteiligung" nach dem Modell der Grazer ÖVP oder der Wiener SPÖ und Grünen ist augenscheinlich. Wenn sich eine Regierung aussucht, welche Fragestellungen sie den Wählerinnen und Wählern zum Abnicken vorlegt, handelt es sich tatsächlich um nichts anderes als ein demokratisches Feigenblatt. Auch echte direkte Demokratie, die wenigstens die Mindestanforderungen verpflichtender Volksabstimmungen und eines Initiativrechts der Bevölkerung erfüllen würde, hat ihre Tücken: Jede der seltenen, in den meisten Modellen auf Ja/Nein reduzierten Entscheidungen würde zur teuren, aufgeheizten medialen Kampagne.
Mit Informationstechnologie geht das besser. In Liquid Democracy muss nicht jede/r bei allem mitreden, hat aber sehr wohl die Möglichkeit, sich je nach Kompetenz und Zeitbudget genau dort einzubringen, wo sie oder er sich am besten auskennt. Dank der Rückwärtskompatibilität zum aktuellen System bleibt allen unbenommen, sich weiterhin nur alle fünf Jahre für eine Partei zu entscheiden - die Beteiligung kann also darunter nicht leiden, sondern nur steigen.
Die Zeit ist reif, die Menschen vielleicht noch nicht
Ist Österreich "reif" für so viel Mitsprache? Wer weiß. Aber nur wer Verantwortung trägt, kann auch lernen, damit umzugehen. Liquid Democracy könnte langfristig eine neue Kultur der verantwortungsvollen Teilhabe statt frustrierter Verdrossenheit schaffen, in der es nicht mehr ausreicht, "die da oben" so polemisch zu verteufeln wie in den ersten Absätzen dieses Kommentars.
Keine Frage: Die bisherigen technischen Implementationen des Konzepts, zum Beispiel das von der Piratenpartei zur Programmentwicklung eingesetzte Liquid Feedback, stecken noch in den Kinderschuhen. Die Benutzeroberfläche muss einladender werden, und es gibt viele offene Fragen, etwa rund um die zwingenderrmaßen nicht geheimen Abstimmungen oder die Möglichkeit, auf solche Weise ein ausgeglichenes Budget zu erreichen.
Umso dringender brauchen wir eine breite, ergebnisoffene gesellschaftliche und wissenschaftliche Debatte über dieses und ähnliche Konzepte und keine dogmatischen Totschlagargumente wie jenes, dass Bürger bloß beraten dürfen. Demokratie ist schließlich schon wörtlich die Herrschaft des Volkes, nicht die genehme "Beratung" einer Politikerkaste.
Das Placebo der repräsentativen Demokratie hat jedenfalls schon längst aufgehört zu wirken. Platz da, hier kommen wir alle. (Christopher Clay, Leserkommentar, derStandard.at, 20.9.2012)