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"Inequalitity" in Aktion: Drei Models posieren bei der "New York Fashion Week" neben einem Obdachlosen.

REUTERS/Lucas Jackson

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Kein Mitglied im Ein-Prozent-Club: Straßenverkäufer in Beverly Hills.

Foto: REUTERS/Lucy Nicholson

Ein Indianer kennt keinen Schmerz, ein Amerikaner keinen Neid. Beobachtern der USA ist oft aufgefallen, dass das ressentimentgeladene Emporschielen zu den Reichen keine tragende Säule der amerikanischen Gesellschaftsarchitektur ist. Natürlich ist dem einzelnen Amerikaner das Neidgefühl nicht unbekannt, aber als politikfähige Idee ist es bedeutungslos (und für einen gläubigen Puritaner auch sündhaft).

Kein relevanter US-Politiker, der bei Sinnen ist, würde wie der französische Sozialist François Hollande öffentlich behaupten, dass er die Reichen "nicht mag", und ihnen dann auch noch 75 Prozent Steuern aufbrummen. Wenn schon Sozialneid, dann von oben nach unten: In dieser Woche empörte sich der 250 Millionen Dollar schwere republikanische Präsidentschaftskandidat Mitt Romney über die 47 Prozent seiner Mitbürger, die keine Einkommenssteuer zahlen, aber sich dennoch als "Opfer" fühlen und frech Ansprüche auf staatliche Unterstützung erheben.

Romney ist nicht der Erste, der das Ressentiment gegen unten bedient. In den Reagan-Jahren geisterte das Phantom der "welfare queens" durch die politische Arena, ein von den Konservativen zum Massenphänomen herbei fantasiertes Schreckbild arbeitsscheuer Unterschichtlerinnen, die sich mit dem Cadillac die Sozialhilfeschecks abholen und dann auf Kosten des Steuerzahlers fünf gerade sein lassen. Eine auch für Millionäre schockierende Vorstellung!

Jeder ist seines Glückes Schmied, und wer es verabsäumt, die Opportunity beim Schopf zu packen, hat sich die Konsequenzen selbst zuzuschreiben: Im Wahljahr 2012 werden diese amerikanischen Grundgewissheiten kräftig hinterfragt. Und es sind nicht nur die Hitzköpfe von Occupy Wall Street, die gegen die Spaltung der Gesellschaft mobilmachen (99 Prozent Habenichtse, ein Prozent Su perreiche - das waren noch Zeiten, als die Vision einer "Zwei-Drittel-Gesellschaft" schockte!). Auch immer mehr renommierte "public intellectuals" haben die "social inequality" als Thema entdeckt. Die Gründe für diese kollektive Nachdenklichkeit über soziale Verwerfungen liegen auf der Hand. Die seit dem Jahr 2008 andauernde Krise hat die real existierenden Vermögens- und Einkommensdifferenzen noch einmal akzentuiert. Nach den jüngsten Daten der amerikanischen Zensusbehörde vom September 2012 ist der Gini-Koeffizient, der die Einkommensunterschiede misst, in den Jahren von 1993 bis 2011 um 5,2 Prozent angestiegen; allein von 2010 bis 2011 nahm er um 1,6 Prozent zu.

Fast jeder sechste Amerikaner - 15 Prozent nach derselben Quelle - ist arm, so viele wie seit den 1960ern nicht mehr. Und dann gibt es natürlich auch Romney, der zum Nachdenken über soziale Ungleichheit anregt. Der hölzerne Mormone schilt 47 Prozent seiner Mitbürger Schmarotzer, während er gleichzeitig seine Millionen mit steuerschonenden Konstruktionen in ausländische Finanzparadiese transferiert.

Einer der ersten, die im Wahljahr 2012 weithin hörbar auf die "Inequality"-Pauke schlugen, war Charles Murray. Der in Harvard und am MIT geschulte Soziologe ist des Linksradikalismus unverdächtig. Anfang der 90er-Jahre entfachte Murray einen Riesenskandal, als er gemeinsam mit Richard Herrnstein in der Bell Curve Überlegungen zum Verhältnis von ethnischer Zugehörigkeit und Intelligenz anstellte. Das jüngste Werk des 69-jährigen Anarchokonservativen, Coming Apart, ist von tiefer Besorgnis über den Status quo der amerikanischen Gesellschaft durchzogen. Murrays Studiengegenstand war die Entwicklung des "White America" im halben Jahrhundert zwischen 1960 und 2010, und das Bild, das sich ihm darbietet, ist nicht hübsch. Es zeigt ein Auseinanderdriften der amerikanischen Bevölkerung in zwei vollkommen voneinander getrennte Lebenswelten, die in keiner Hinsicht mehr etwas miteinander zu tun haben.

Murray sieht die 90er-Jahre als Schlüsselepoche dieser Entwicklung. Durch die Erfindung neuer Technologien, vor allem des Internets, werden damals die Karten auf dem Arbeitsmarkt neu gemischt. Es wächst die Nachfrage nach exzellent ausgebildeten, hochspezialisierten Fachkräften; ein zuvor nicht gekannter "Markt für Gehirne" entsteht, während zugleich unqualifizierte Arbeit massiv entwertet wird. Bill Gates sprach von einem "Krieg der IQs", der sich allerdings nicht zwischen Microsoft und seinen Software-Konkurrenten abspielte, sondern zwischen Microsoft und Investmentbanken wie Goldman Sachs oder Morgan Stanley, die die in den Nobeluniversitäten des Landes ausgebildete In telligenz magnetisch anzogen. Der New York Times-Kolumnist David Brooks entdeckte 2000 in seinem - milde satirischen - Bestseller Bobos in Paradise den Sozialtypus des "Bourgeois Bohemian", den betuchten städtischen "Professionellen", der die Kommoditäten des bürgerlichen Daseins mit den Annehmlichkeiten der Boheme-Freiheit verbindet.

Das von Murray detailreich geschilderte Milieu der US-Modernisierungsgewinner - glücklich, wer ihm angehört! - führt einen angenehmen, charakteristischen Lifestyle. Die neue "upper class" ist auf ihre Gesundheit bedacht (Yoga, Mountainbiken, Marathon) und anders als das Gros der Bevölkerung fast nie übergewichtig.

Außer gelegentlich der einen oder anderen Simpsons- oder Mad Men-Folge sieht sie kaum fern, ist aber bestens aus New York Times, Wall Street Journal oder dem Economist über die Weltläufte informiert. Die Scheidungsrate ist signifikant niedriger als bei den Armen. Nie würde man Urlaub in Las Vegas oder Disney World machen, sondern man ist als Back packer in Belize oder in Südfrankreich unterwegs oder segelt auf einem Boot die Küste vor Maine entlang. Geradezu obsessiv beschäftigen sich die neuen Uppers mit den Schulen und Universitäten, die ihre Kinder besuchen sollen, was dann zugleich auch der beste Garant dafür ist, dass sich ihre Schicht nahtlos reproduziert.

Weil Wissen Macht und Geld bedeutet, ist der "Transfer der ko gnitiven Fähigkeiten auf die kommende Generation" (Murray) eine der lebensgeschichtlichen Hauptaufgaben der Happy Few. Und auch sonst bleibt man unter sich. Murray spricht von "sozialer Homogamie", das ist eine ins Sozialwissenschaftliche übertragene Formulierung der alten Erkenntnis, dass sich Gleich und Gleich gerne gesellt. Murray geht sogar so weit, von einer "neuen Segregation" zu sprechen, nur dass sie nicht entlang "rassischer" Linien verläuft, sondern zwischen Arm und Reich. Diese Segregation ist nicht nur im Sinne eines Auseinanderklaffens von finanziellen Möglichkeiten, Mentalitäten und Lebenschancen gemeint, sondern auch handfest geografisch: Die Uppers scharen sich in einer Handvoll Nobelgegenden zusammen, deren erlesene Postleitzahlen Murray "SuperZIPs" nennt. Die räumliche Segmentierung verbürgt, dass sich Arm und Reich tendenziell niemals physisch über den Weg laufen. "Belmont" und "Fishtown" nennt Murray seine fiktiven zwei Orte, an denen er veranschaulicht, in welchen Welten Reich und Arm im heutigen Amerika leben,

Aus eigener Kraft

Auch die obersten fünf Prozent der amerikanischen Gesellschaft - mit mindestens 186.000 Dollar Haushaltseinkommen ist man im Club dabei - sind in sich noch einmal kräftig differenziert. Die Einkommensschwächsten in der Top-Five-Schicht - meist Medienleute oder Universitätsprofessoren - führen fast prekäre Existenzen im Vergleich zu den millionenschweren Rechtsanwälten oder Wirtschaftsleuten über ihnen, von Internetgewinnern wie Mark Zuckerberg zu schweigen. David Brooks spricht bei den Ärmeren der Wohlhabenden von einer "Status-Einkommen-Disparität". Bedauern muss man sie trotzdem nicht. Immerhin liegt man bei einem Haushaltseinkommen von 186.000 Dollar noch fast um das Vierfache über dem entsprechenden amerikanischen Medianeinkommen, das 2011 gerade einmal 50.054 Dollar betrug.

In einer Gesellschaft ohne Neid müssen die Menschen davon überzeugt sein, dass es gerecht ist, wenn die Reichen reich sind, und darauf vertrauen, dass sie selbst die Möglichkeit haben, reich zu werden. Wenn einer reich ist, hat er es verdient, reich zu sein: Dieses Prinzip nennt man auch Meritokratie. Es ist ein sehr amerikanisches Prinzip, das sich historisch auch aus der Opposition gegen die soziale Undurchdringlichkeit hier archisch-aristokratischer Gesellschaften, die man in Europa hinter sich gelassen hatte, erklärt.

Der Glaube, dass man es aus eigener Kraft nach oben schaffen kann ("to make it") ist ein uramerikanisches Credo, aber es ist eines, an das man immer weniger glauben kann. Das behauptet Christopher Hayes, ein emporstrebender junger Journalist, der für die linke Nation und den links liberalen TV-Sender MSNBC arbeitet. In seinem Buch Twilights of the Elites sieht Hayes ein post meritokratisches Zeitalter in den USA heraufdämmern.

Die Idee der Meritokratie, meint Hayes, sei in den USA nicht zuletzt deshalb immer so lebens kräftig gewesen, weil sie rechten Grundüberzeugungen ebenso entsprach wie linken. Die Rechte glaubt an die natürliche Ungleichheit der Menschen, bei der Linken steht Meritokratie für kosmopolitisches Ethos, die Verachtung des bloß Ererbten und das Bekenntnis zur Diversität und Offenheit. Der Pferdefuß des Meritokratismus ist für Hayes allerdings, dass dieser sich auf lange Sicht gegen sich selbst kehrt.

Diejenigen, die es auf der sozialen Leiter nach ganz oben schaffen, ziehen die Leiter dann entweder ganz egoistisch zu sich hinauf oder schieben sie ihren Familienmitgliedern, Freunden und Spezln zu. "The winner takes it all": Die durch das Leistungprinzip Belohnten werden gesellschaftlich so übermächtig, dass sie den anderen die Luft zum Atmen nehmen. In der dramatischsten Zuspitzung heißt das dann wirklich: Das eine Prozent gegen die 99, oder wie Hayes es formuliert: "Wer von Meritokratie spricht, spricht letztlich von Oligarchie".

Dass eine solche Entwicklung gesellschaftlich nicht gesund sein kann, liegt auf der Hand. Hayes häuft denn auch Beispiel um Beispiel an, wie die Abgehobenheit ("out of touch") der Obersten in der "verlorenen Dekade von 2000 bis 2010" hervorgetreten sei - die Exzesse der Banker, der ohne Rücksicht auf Verluste vom Zaun gebrochene Irakkrieg und so fort.

Für Murray, der die Arm-Reich-Segregation ebenfalls als das Krebsübel der amerikanischen Gegenwartsgesellschaft ansieht, hat bereits ein "selektiver Kollaps von Gemeinschaft" stattgefunden. Er schließt damit explizit an die aufrüttelnden Befunde des Politologen Robert Putnam an, der in seinem 2000 erschienenen und schnell zum Klassiker gewordenen Buch Bowling Alone ein Flächenpanorama von einem seit Jahrzehnten beobachtbaren Verfall des "amerikanischen Sozialkapitals" gemalt hat: Rückzug aus dem gesellschaftlichen Zusammenleben, Wahlabstinzenz, zunehmendes soziales und bürger liches Desengagement. Logischerweise findet man diese Übel am unteren Ende der sozialen Stufenleiter, also in "Fishtown", ungleich häufiger vor als in "Belmont."

"Der Glaube in die essentielle Fairness Amerikas (...) ist der amerikanische Mythos, kraftvoll und dauerhaft. Aber dieser Glaube erweist sich zunehmend genau als das - nämlich als Mythos", schreibt Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Sti glitz in seinem neuen Buch The Prize of Inequality - How Todays Divided Society Endangers Our Future. Stiglitz verweist auf "eine Menge unterschiedlichster Studien", die belegen, dass die Mobilität von unten nach oben just in den USA heute geringer ist als in anderen entwickelten Ländern. Dem "Economic Mobility Project" am Meinungsforschungsinsitut Pew zufolge ist die Relation zwischen der Ausbildung der Eltern und der "ökonomischen, bildungsmäßigen und sozioemotionalen Befindlichkeit ihrer Kinder" in den USA größer als in allen anderen untersuchten Ländern, konkret: Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien, Kanada, Australien, Schweden, Finnland und Dänemark. Anders formuliert: Die Chancen, Defizite der persönlichen Herkunft durch Aufstiegswillen, Fleiß und Talent wettzumachen, stehen ungeachtet einzelner Erfolgsgeschichten vom Schwarzenegger-Typus in den USA schlechter als anderswo.

Stiglitz geht auch mit seiner eigenen Zunft, der Wirtschaftswissenschaft hart ins Gericht, namentlich mit den Vertretern der vorherrschenden "Marginal Productivity Theory", welche besagt, dass die, die mehr haben, deshalb mehr haben, weil sie einen größeren Beitrag zum Wohlergehen der Gesellschaft leisten. Stiglitz bezweifelt nicht nur die Richtigkeit dieser These, sondern glaubt, dass ihre Hauptfunktion mittlerweile die sei, die "wissenschaftliche" Rechtfertigung für die wachsende Ungleichheit zu liefern und die unselige Rolle, die die Politik in dem ganzen Prozess spielt, zu bemänteln. Die US-Regierungspolitik, meint Stiglitz, trage nämlich keineswegs zur Lösung des Ungleichheitsproblems bei, sondern verursache es im Gegenteil in großen Ausmaßen selbst, etwa durch eine Steuerpolitik, die das oberste Segment der Gesellschaft konstant bevorzugt.

Murray, Hayes und Stiglitz wären keine guten Amerikaner, ließen sie es bei der Problembeschreibung bewenden und hätten keine eigenen Vorstellungen, wie man der Misere gegensteuern könnte. Murray setzt auf ein Erwachen der Bürgergesellschaft ("a civic great awakening") und eine Rückbesinnung auf amerikanische Gründungstugenden wie Fleiß, Ehrlichkeit oder Religiosität, ohne freilich im Detail zu verraten, wie diese die Malaise der Arm-Reich-Segregation kurieren sollte. Hayes setzt seine Hoffnungen auf neue Formen nichthierarchischer bürgerlicher Selbstorganisation gegen die abgehobenen "postmeritokratischen" Eliten. Beispiele sind die Tea-Party-Bewegung, der Hayes politisch allerdings nur wenig abgewinnen kann, oder aber Occupy Wall Street.

Egalitäres Potenzial

Hier oder bei Move On sieht Hayes ein großes Entwicklungspotenzial für eine egalitäre Graswurzelbewegung, zumal sich die politische Linke historisch und ideologisch lange auf den Wert der Gleichheit verpflichtet habe. Zweck der Übung: "Wir müssen die elementarsten Institutionen - das Bildungssystem, die Regierung, Wall Street - direkt mit unseren Forderungen konfrontieren und von Grund auf reformieren. Wir müssen die Macht von denen, die am meisten von ihr haben und am meisten von ihr profitieren, zurückerobern, auch wenn sie sich mit Zähnen und Klauen zur Wehr setzen werden."

Stiglitz sieht vor allem die Steuerpolitik gefordert: Auf seiner Wunschliste steht eine höhere Besteuerung der Topeinkommen und arbeitsloser Einkünfte, Steuerschlupflöcher gehören rigoros gestopft. Außerdem müsste die Regierung jenen Firmen und Konzernen, die ihr Geld mit Öl und Gas machen, gerechte Preise für die Nutzung abverlangen und sie nicht auch noch subventionieren. Immerhin, meint Stignitz, handle es sich um Ressourcen, die "von Rechts wegen allen Amerikanern gehören". Weitere Punkte auf der Traktandenliste von Stiglitz: verbesserter Zugang zu Bildungsinstitutionen, eine Abmilderung der Globalisierungshärten durch mehr Sozialhilfe sowie eine grundlegende Reform des Finanzsektors, der durch seine Exzesse gewaltig zum Anstieg der Ungleichheit beigetragen habe: "Hier wäre der natürliche Ort, von dem aus ein Reformprogramm begonnen werden sollte", meint Stiglitz. Sein Wort in Gottes Ohr. Wie immer der nächste amerikanische Präsident nach den Wahlen im November auch heißt: Bei der Bekämpfung der sozialen Ungleichheit fände er jedenfalls ein weites Betätigungsfeld. (Christoph Winder/DER STANDARD, Album, 22./23.9.2012)