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Ein japanischer Forscher will eine Lösung für Energieprobleme gefunden haben.

Foto: Reuters

Rikiya Abe hat eine Idee. Er will Strom singen lassen. Die Kaffeemaschine spielt Beethovens Fünfte, während sie den Kaffee brüht. Das Elektroauto rockt über die Straßen. "Und wir liefern über das Internet Programme, mit denen wir über die Frequenz der Stromrichter Musik machen können", träumt Abe laut.

Kein Atomstrom

Die Idee hört sich verrückter an, als sie ist. Abe, Universitätsprofessor und zuvor führender Ingenieur eines Stromkonzerns, ist ein hochangesehener Visionär der japanischen Stromindustrie. Doch im Gegensatz zu seinen Kollegen hat er schon lange mit der Atomenergie gebrochen. Stattdessen trommelt er für eine Idee, die das Stromnetz der Zukunft revolutionieren und fit für Ökostrom machen soll: das digitale Stromnetz.

Bei diesem weit über die Smart-Grid-Systeme, die derzeit etwa in Europa umgesetzt werden, hinausgehenden Konzept wird das Stromnetz in kleine dezentrale Zellen zerlegt, die über spezielle digitale Router wie das Internet vernetzt werden. In der größten Ausbaustufe könnte Strom über Riesenrouter genauso gezielt wie Datenpakete im Web von A nach B geschickt, gemessen und nach Verbrauch abgerechnet werden. In der kleinsten Ausbaustufe kann der Router den Stromfluss daheim zwischen Netz, Elektroauto, Solarzellen, elektrischen Geräten und Batterien zur Speicherung von Solarstrom managen.

Ökostromprobleme lösen

Mit dem digitalen Netz verspricht Abe eines der größten Probleme der erneuerbaren Energien zu lösen: die hohen zeitlichen und regionalen Schwankungen bei der Stromproduktion durch Sonne und Wind. "Die gängige Antwort ist heute, zusätzliche Hochspannungsleitungen durchs Land zu ziehen, um die Fluktuationen auszugleichen", erklärt Abe. Dies sei aber nicht nur teuer, sondern erhöhe auch das Risiko von Kurzschlüssen und großräumigen Stromausfällen.

Abes digitales Netz verhindert diese Probleme, indem es in viele miteinander kreuz und quer verbundene regionale Zellen zerlegt ist. Die können je nach Ausbaustufe ein paar Häuser umfassen, ein Dorf oder eine Stadt. Falls die große Stromleitung ausfällt, können die Zellen autonom weiterleben und sich, gemanagt über die Stromrouter, gegenseitig mit Strom versorgen. In Japan hat Abes Idee bereits gezündet. Nachdem im März 2011 das Erdbeben, der Tsunami und die Atomkatastrophe die Verwundbarkeit des bestehenden Netzes demonstriert haben, wurde ein Digitales-Stromnetz-Konsortium gegründet.

Offenes System

Die Bedeutung des Routers, von dem es bereits einen ersten Prototyp gibt, reicht weit über den Stromtransport hinaus. Wie beim offenen Computerbetriebssystem Linux soll die Kerntechnik für jedermann offen sein. Für Produkte und Apps, die für die Technik entwickelt werden, können Entwickler Geld verlangen. Der singende Strom ist nur eine Idee, Methoden der Strommessungen eine andere.

Abe und seine Partner rechnen sich große Absatzchancen aus, besonders in der Dritten Welt. Industrienationen versuchen ihre Stromnetze für mehr Ökostrom zu wappnen. Entwicklungs- und Schwellenländer wie Indien mit ihrer schwachen nationalen Infrastruktur können massiv vom schnellen Aufbau kleiner, dezentraler Netze profitieren. Selbst europäische Konzerne nehmen die Japaner daher inzwischen ernst. Siemens und ABB seien bereits an der Technik interessiert, verrät Abe. (Martin Kölling aus Tokio, DER STANDARD, 3.10.2012)