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Ministerpräsident Erdoğan im Wahlkampf für die türkische Parlamentswahl 2011.

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Ein Bild aus besseren Tagen: Kürşad Tüzmen (hinten links) im Parlament vor seiner Krebserkrankung.

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Innenminister Şahin bei einem Treffen mit Angelina Jolie. Gesprochen wurde über die ernste Lage der syrischen Flüchtlinge in der Türkei.

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Auch nach dem vierten Parteitag der türkischen Regierungspartei AKP (Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt) am Sonntag in Ankara ebben die Spekulationen über die Zukunft von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan (58) nicht ab. Bei dem jüngsten Treffen wurden 21 der 50 Vorstandsposten der Partei neu besetzt - dafür musste so manch altgedientes Mitglied weichen.

Eine davon war Ayşe Böhürler (49), Kolumnistin der regierungsnahen Zeitung "Yeni Şafak". Sie wurde nicht mehr für den Parteivorstand nominiert. Böhürler soll wegen ihrer Artikel in Ungnade gefallen sein, mit denen sie die Gerüchte mitgenährt hatte, die türkischen Sicherheitskräfte hätten zeitweilig die Kontrolle über den türkisch-irakischen Grenzort Şemdinli an die PKK verloren.

Auch der aktuelle Innenminister Idris Naim Şahin (56), ein Urgestein der AKP, wurde nicht mehr in den Vorstand gewählt. Er muss nach drei aufeinanderfolgenden Amtsperioden für die nächste Wahl passen. Şahin erregte zuletzt Aufmerksamkeit, als er die neuen Knüppel der türkischen Polizei lobte, da sie einen "noch besseren Bürgerservice" gewährleisten würden. Diese Aussage bescherte ihm die Aufmerksamkeit der Kolumnisten und der beliebten Satiremagazine der Türkei.

Auch das ehemalige Schwergewicht Kürşad Tüzmen (54), der zusammen mit Erdoğan prominent am Aufbau der AKP mitgewirkt hatte, musste weichen. Auch wenn er aufgrund einer anhaltenden Krebserkrankung kaum noch aktiv war, wird der Abschied Tüzmens von Beobachtern als Substanzverlust der AKP gewertet.

Die Shootingstars

Die heftigsten Debatten gab es um die neuen Namen, die Erdoğans Partei für die bevorstehenden Kommunalwahlen Ende 2013 stärken sollten: AKP-Neulinge, die nicht nur den Segen der Parteimitglieder erhielten, sondern auch als "strategische Transfers" gewertet werden.

Einer dieser Neulinge ist der Jurist Osman Can. 2008 entging die AKP knapp dem Verbot durch das türkischen Verfassungsgericht. Sechs von elf Richtern hatten für ein Verbot gestimmt, aber die entscheidende siebte Stimme hatte gefehlt. Osman Can (44) fungierte damals als Berichterstatter des Verfassungsgerichts in der Causa. Sein Bericht soll den Ausschlag gegeben haben, dass die notwendige Stimmenmehrheit nicht erreicht wurde. Der Jurist, der an der Universität Köln promoviert hat, schrieb seine Doktorarbeit über die Grenzen der Meinungsfreiheit im türkischen Rechtssystem.

Ein alter Weggefährte Erdoğans aus Millî-Görüş-Zeiten ist Numan Kurtulmuş (53), ein in den USA ausgebildeter Wirtschaftswissenschaftler. Die Millî Görüş ist eine umstrittene politisch-islamische Bewegung, aus der viele heutige AKP-Politiker kommen. Kurtulmuş leitete die heutige Saadet Partisi seit 2008 (Partei der Glückseligkeit, SP), die nach der Trennung zwischen Erdoğans AKP und der Millî-Görüş-Bewegung fortbesteht. Er führte diese bei den Kommunalwahlen 2009 zu einem Achtungserfolg gegen die starke und ebenso islamisch-konservativ ausgerichtete AKP. Dennoch wurde er bei einem Iftar-Abendessen im Fastenmonat Ramadan 2010 von einer aufgebrachten Menge junger Millî-Görüş-Sympathisanten angegriffen, nachdem er zuvor den Sohn des Millî-Görüş-Gründers Necmettin Erbakan, Fatih, nicht für den Parteivorstand berücksichtigt hatte.

Ein kurzes Intermezzo mit einer eigenen Kleinstpartei folgte daraufhin. Während dieser Zeit warnte er seine Anhänger wiederholt vor "geheimen AKP-Sympathisanten" innerhalb der eigenen Reihen. Nun wurde er selbst in den AKP-Vorstand gewählt und wird als der Kandidat für die Nachfolge Erdoğans gehandelt. Er gilt als besonnen, umgänglich und legt nach offizieller Lesart einen starken Fokus auf die soziale Verträglichkeit des Kapitalismus in der Türkei.

AKP-Quereinsteiger Süleyman Soylu (43) hatte die aus der Fusion zweier ehemaliger Mitte-rechts Parteien hervorgegangene "Demokrat Parti" (Demokratische Partei, DP) kurzzeitig angeführt. Er konnte zwar die in der Türkei für den Einzug ins Parlament notwendige Zehnprozenthürde nicht überschreiten, machte sich aber im Zuge des von der AKP lancierten Verfassungsreferendums für ein Ja stark. Dafür wurde er umgehend aus der DP ausgeschlossen. Die AKP vergaß ihn nicht und übernahm ihn nun in den Parteivorstand. Soylu soll die säkular-konservativen Stimmen der ehemaligen Mitte-rechts-Parteien für die AKP sichern.

Erdoğans Nachfolger

Zum dritten und damit letzten Mal ließ sich Erdoğan am Parteitag zum AKP-Chef wählen. Zusätzlich wird er nach drei Perioden im türkischen Parlament auch nicht mehr Abgeordneter oder Ministerpräsident sein können. Er kann allerdings noch für das Amt des Präsidenten kandidieren. Dafür müsste aber zunächst der amtierende Präsident und Erdoğan-Parteifreund Abdullah Gül (62) Platz machen, der 2014 ein zweites Mal kandidieren dürfte.

In den vergangenen Monaten wurden wiederholt Meinungsverschiedenheiten zwischen Gül und Erdoğan offenkundig. Jüngst sprach sich Gül etwa dafür aus, dass die aus der Haft nominierten und gewählten Abgeordneten der Republikanischen Volkspartei (CHP) und der Nationalistischen Aktionspartei (MHP) ihr Mandat antreten dürften. Erdoğan wies diese Forderung umgehend zurück. Gül ist nicht im Parteivorstand der AKP, er gilt innerhalb der Partei zunehmend als isoliert.

Die Nachfolge Erdoğans soll daher möglichst schnell und ohne große Schlagzeilen geregelt werden. Außer dem neuen Shootingstar Numan Kurtulmuş wurde auch der amtierende Außenminister Ahmet Davutoğlu in den Parteivorstand gewählt, ebenso der frühere Außenminister Ali Babacan. Sowohl Davutoğlu als auch Babacan werden Chancen eingeräumt, da sie auch in der Partei Unterstützung genießen sollen. Dennoch tendiert nach Angaben türkischer Innenpolitik-Experten Erdoğan zum alten Bekannten und AKP-Neuling Kurtulmuş.

Zurück zu Millî Görüş-Tagen?

Mit diesem Parteitag gewannen die ehemaligen Millî Görüş-Anhänger und der Unternehmerverband des konservativen Lagers MÜSIAD wieder an Einfluss, während die Anhänger des türkisch-islamischen Predigers Fetullah Gülen innerhalb der Regierung geschwächt wurden. Fatih Altayli, Chefredakteur der moderaten Zeitung "Habertürk" sieht sogar eine Wiederannäherung Erdoğans an die Millî Görüş-Bewegung und fühlt sich durch die Reden Erdoğans während des Parteitages in seiner Sicht bestärkt.

Wenn Erdoğan ins Präsidentenamt wechseln kann, hätte er zwei Amtsperioden zur Verfügung, die ihn bis ins Jahr 2023 aktiv in der türkischen Politik halten würden. So lautete auch der Wahlslogan der AKP bei den letzten Wahlen vielsagend: "Türkiye hazır, hedef 2023" - die Türkei ist bereit, das Ziel lautet 2023. (Rusen Timur Aksak, derStandard.at, 3.10.2012)