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Julian Nida-Rümelin: "Die Eurokrise an sich hätte aber sehr früh und sehr schnell unter Kontrolle gebracht werden können. Stattdessen wurde durch Zögern und Taktieren der deutschen Bundesregierung die Krise nicht nur nicht behoben, sondern vertieft."

Foto: Reuters/Arnd Wiegmann

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Es ist ein steiniger Weg für Griechenland, denn nach dem Krisenjahr ist vor dem Krisenjahr.

Hilfstranche um Hilfstranche fließen nach Griechenland, doch mit der Wirtschaft des Landes geht es stetig abwärts. Aber die Verschuldung ist nicht das Hauptproblem. Die EU hat ein massives Demokratiedefizit und verschärft mit ihrer Politik die Finanzkrise, meint Julian Nida-Rümelin.

Im Gespräch mit derStandard.at zeigt der deutsche Philosoph, welchen Fehlwahrnehmungen die Bundesbürger unterliegen, wie es zu einer schleichenden Entmachtung des Volkes kommen kann und warum Ratingagenturen nur Unheil stiften.

derStandard.at: Ist die Eurokrise auch eine Krise der Demokratie?

Nida-Rümelin: Ja, in doppelter Hinsicht. Zum einen werden einige Länder des Euroraums von Technokraten regiert. Sie wurden eingesetzt, um in der Not ein Problem zu lösen. Aber es mangelt ihnen an demokratischer Legitimation. Zum anderen zeigt sich, dass die Nationalstaaten mit eigenen Mitteln die Krise nicht bewältigen können, während die Europäische Union nicht die demokratisch legitimierten Institutionen hat, um die notwendigen Entscheidungen zu treffen. Wir erleben seit Monaten einen intergouvernementalen Prozess zwischen unterschiedlichen Regierungen und der Troika. Die Vorschläge der Beteiligten spielen nur noch eine untergeordnete Rolle.

derStandard.at: Wird der Bürger durch die Rettungsschirmpolitik entmachtet?

Nida-Rümelin: Ich hoffe nicht, dass das der Beginn einer Epoche ist, in der die Demokratie von einer Politik getragen wird, die von Finanzmarktinteressen geprägt ist. Ich erinnere an die Äußerung von Angela Merkel, man brauche eine marktkonforme Demokratie. Die Kanzlerin schlägt also nichts anderes vor, als eine Demokratie, die abhängig von den Marktinteressen und den Vorgängen auf den Weltfinanzmärkten ist.

De facto wäre dies nicht mehr als eine Fassadendemokratie und wir hätten es tatsächlich mit einer schleichenden Entmachtung der Bürger zu tun. Die Abhängigkeit der Nationalstaaten von Weltmarktvorgängen auf der einen Seite und einer demokratisch nicht hinreichend legitimierten europäischen Ebene auf der anderen Seite, in der beispielsweise der Parlamentspräsident, von all den derzeitigen Verhandlungen, ausgeschlossen ist, zeigt, dass die Europäische Union ein Demokratiedefizit hat.

derStandard.at: Vieles wurde zu Beginn der Krise falsch eingeschätzt. Wäre Delphi das bessere Finanzmarktorakel als die US-Ratingagenturen gewesen?

Nida-Rümelin: Ratingagenturen sind in meinen Augen ein ganz trauriges Kapitel. Dass es sie in dieser Form nach dem Jahr 2009 überhaupt noch gibt, ist im Grunde ein Treppenwitz der Geschichte. Die Agenturen waren nicht in der Lage, vor Ausbruch der Weltfinanzkrise auch nur eine einzige Warnung zu geben. Sie haben alle Institute, einschließlich Lehman Brothers, die kurz darauf in den Abgrund strudelten, mit Triple A versehen und sich so bis auf die Knochen blamiert und nichts daraus gelernt: Die Agenturen bewerten nach wie vor offenbar nach ökonomischen Interessen.

Es ist schon auffällig, wie sie regelmäßig gegen europäische Konsolidierung Warnsignale abgeben. Großbritannien wird zum Beispiel weit günstiger bewertet als Frankreich, obwohl Frankreich in fast jeder Hinsicht die besseren Wirtschaftsdaten und die bessere Demografie aufweist.

derStandard.at: Wie erklärt sich dennoch die Abhängigkeit der Weltfinanzmärkte von den Ratingagenturen?

Nida-Rümelin: Dass die Märkte auf die Einschätzungen der Agenturen derart sensibel reagieren, ist ein Trauerspiel. Es gibt bereits Modelle, sie durch öffentlich-rechtliche Einrichtungen in Europa zu ersetzen. Ein guter Ansatz, denn die Ratingagenturen haben in der Vergangenheit nur Unheil gestiftet.

derStandard.at: Was würden Sie Angela Merkel raten?

Nida-Rümelin: Man darf die Krise auf keinen Fall prolongieren. Natürlich wird Griechenland nicht innerhalb kurzer Zeit wieder in normales "Fahrwasser" zurückkehren. Die Eurokrise an sich hätte aber sehr früh und sehr schnell unter Kontrolle gebracht werden können. Im Prozess der europäischen Institutionen hätte man eine Vertiefung der Europäischen Union vorbereiten können. Stattdessen wurde durch Zögern und Taktieren der deutschen Bundesregierung die Krise nicht nur nicht behoben, sondern vertieft.

Zu Beginn der Krise in Griechenland beispielsweise lag die Staatsverschuldung bei etwa 120 Prozent, heute ist sie auf 165 Prozent angewachsen. Die Wirtschaftsleistung des Landes ist massiv eingebrochen. Deutschland verschärfte - vielleicht sogar ungewollt - mit den drastischen Austeritätsmaßnahmen die Krise noch.

derStandard.at: Die Europäische Union hat also primär ein institutionelles Problem?

Nida-Rümelin: Nicht die Verschuldung ist das Hauptproblem. Grob gesagt, haben wir in allen 17 Eurozonen-Ländern ein System der Fremdwährung. Die Situation ist vergleichbar mit der, als Brasilien den Real an den Dollar 1:1 gekoppelt hat. De facto wurde international mit dem Dollar, also einer Fremdwährung, gehandelt, ohne dass die brasilianische Zentralbank diese Währung garantieren konnte. Diese institutionelle Krise hätte bei Einführung des Euro bekannt sein müssen, wurde aber von den Politikern übergangen und offenbart sich nun - zehn Jahre zu spät. Der Euroraum könnte die Märkte sofort beruhigen, wenn die Gesamtheit hinter dem Euro steht und die Finanzmärkte nicht mehr spekulieren könnten.

derStandard.at: Das sieht auch EZB-Chef Mario Draghi so, oder?

Nida-Rümelin: Die Mehrheit der deutschen Bundesbürger leidet unter der Fehlwahrnehmung, die Bundesregierung stelle sich schützend vor ihre Ersparnisse und lehne es deshalb ab, EU-Krisenländern in höherem Umfang zu helfen. Tatsächlich bewirkt diese Haltung eine Verteuerung der Krisenkosten von Monat zu Monat, weil die Refinanzierungskosten in erster Linie nicht von den Staatsschulden dieser Länder abhängen, sondern von den Zinssätzen auf Staatsanleihen.

Diese Zinssätze sind gegenwärtig sehr unterschiedlich: Sie bewegen sich bei deutschen Staatsanleihen um ein Prozent und lagen vor der Ankündigung von Draghi, in unbegrenztem Umfang Staatsanleihen aufzukaufen, in Griechenland oder Italien bei über sieben Prozent. So einen Zinssatz hält kein Land lange durch. Auch wenn sich Draghi in Deutschland dadurch unbeliebt gemacht hat, kann die Bundesregierung über seinen Weg nur froh sein, weil sonst weitere Hilfsprogramme in den nächsten Monaten nötig geworden wären.

derStandard.at: Vom irischen Schriftsteller George Bernard Shaw stammt das Zitat: "Alte Leute sind gefährlich; sie haben keine Angst vor der Zukunft." Trifft das auch auf Entscheidungsträger wie Angela Merkel, Mario Monti oder Wolfgang Schäuble zu?

Nida-Rümelin: Nicht unbedingt. Ältere Politiker wie Monti oder Schäuble haben ihre Karriere längst hinter sich. Sie sind dadurch auch freier in ihren Entscheidungen. Ein interessantes Phänomen ist, dass die Bevölkerung in Krisenzeiten dazu tendiert, gerade älteren Politikern zu vertrauen. Ganz deutlich wurde das beispielsweise in Italien, als Staatspräsident Giorgio Napolitano im November 2011 die Machtübergabe von Silvio Berlusconi an Monti koordinierte.

In Deutschland halte ich Schäuble im Übrigen für denjenigen mit dem klarsten Blick in der Bundesregierung, wenn er so agieren könnte wie er wollte und nicht permanent ausgebremst würde, stünden wir wohl besser da. Außerhalb der Bundesregierung ist das zweifellos Peer Steinbrück, der soeben nominierte Kanzlerkandidat der SPD.

derStandard.at: Wird die Krise von Fehldiagnosen begleitet?

Nida-Rümelin: Vor allem in Deutschland. Man verbreitet die Auffassung, die Eurozone leide unter einem Verschuldungsproblem. Das ist falsch.

derStandard.at: Welche Wege sehen Sie aus der Krise?

Nida-Rümelin: Es gibt nur zwei Lösungen. Die erste wäre die Rückkehr zu den nationalen Währungen. Dieser Weg ist hochriskant, aber durchaus in sich stimmig. Deutschland könnte dabei der Hauptleidtragende sein, weil die Deutsche Mark in diesem Fall vermutlich mit 40 bis 60 Prozent Aufwertung durch die Decke schießen würde. In der Exportwirtschaft würde das zu einem dramatischen Einbruch führen. Das hätte auf Dauer wohl eine "Normalisierung" zur Folge, denn Deutschland ist aktuell viel zu stark exportorientiert. Die gigantischen Handelsbilanzüberschüsse beschädigen andere Länder.

Auf der anderen Seite könnten die südlichen Länder davon profitieren, da sie durch Inflation und Abwertung der Währung wieder eine stärkere Konkurrenzfähigkeit herstellen könnten. Ich schließe mich zwar den Worten Merkels, "scheitert Euro, scheitert Europa", nicht an. Dennoch wäre dieser Weg eine gewaltige Krise des europäischen Integrationsprojektes. Eine Re-Nationalisierung würde drohen, die Folgekosten sind nicht abschätzbar: Banken beispielsweise würden in hohem Maße pleitegehen, die Hilfsbedürftigkeit infolge steigender Arbeitslosigkeit würde zunehmen. Ich rate daher von diesem Weg ab.

derStandard.at: Der andere Weg?

Nida-Rümelin: Nicht so weiterzuwurschteln wie bisher, sondern die europäische Integration zu vertiefen. Man bräuchte eine Europäische Zentralbank, die handlungsfähig ist, ein zumindest teilweises Aufgeben der Souveränität in der Fiskalpolitik. Das heißt, es müsste eine europäische Kontrolle der Haushalte, wie das in föderalen Systemen üblich ist, geben: Verschuldet sich eine Stadt in Deutschland zu hoch, verliert sie ihre Haushaltsautonomie. Ein vom jeweiligen Bundesland eingesetzter Kommissar entscheidet, welche Ausgaben noch getätigt werden dürften und welche nicht.

Doch dieser Souveränitätsverzicht ist nur dann erträglich, wenn er mit einer Demokratisierung der europäischen Institutionen einhergeht. Das bedeutet, dass das europäische Staatsvolk als Ganzes das Parlament wählt, dass sich Europa-Listen gegenüberstehen, es eine europäische Öffentlichkeit und eine Art europäische Regierung gibt. Dazu haben wir bereits ein Zwei-Kammer-System vorgeschlagen, in dem die Länder vertreten sind einerseits und ein Europäisches Parlament andererseits, in dem die Regel "one man, one vote" gilt, also keine Bevorzugung größerer Länder.

derStandard.at: Gibt es einen Kompromiss zwischen diesen beiden Wegen?

Nida-Rümelin: Nein. Ein Kompromiss wäre nichts Halbes, nicht Ganzes und würde die Krise nur vertiefen. (Sigrid Schamall, derStandard.at, 4.10.2012)