Völkerrechtlich war der Granatenbeschuss aus Syrien, der am Mittwoch in einer türkischen Grenzstadt fünf Menschen tötete, eine Aggression und eine Verletzung der türkischen Souveränität, und die Türkei hat jeden Grund, laut aufzuschreien. Dass sich die Regierung jedoch gleich eine Parlamentsautorisierung für eine Militärintervention in Syrien holt, fällt eher in die Abteilung "große Oper": Ankara weiß, dass "Selbstverteidigung" als Begründung für eine wirkliche Offensive der Türkei in Syrien einer Überprüfung nicht standhalten würde.

Denn politisch will die fast ängstliche Reaktion des Regimes in Damaskus - das den russischen Rat, sich zu entschuldigen, rasch befolgte - nicht zu einer angeblichen Aggressionslust passen. Bashar al-Assad will in Syrien den Aufstand niederschlagen, koste es, was es wolle. Seine einzige Chance auf Erfolg ist dabei, dass die Rebellen auf sich allein gestellt bleiben, beziehungsweise dass die Hilfe für sie nicht über das hinausgeht, was sie bereits jetzt an Geld und Waffen bekommen. Deshalb machte er auch nicht viel Aufhebens davon, als sich nach einem Abschuss eines türkischen Kampfjets im Juni herausstellte, dass dieser im syrischen und nicht im internationalen Luftraum, wie die Türken behauptet hatten, getroffen worden war. Und nach dem aktuellen Vorfall versprach Assad laut Ankara sogar, dass so etwas nicht wieder vorkommen werde. Das Regime täuscht damit eine Kontrolle über die Situation vor, die es längst nicht mehr hat.

Aber sogar der jeder Realität entrückte Assad weiß eben, dass ein Nato-Beistandsfall sein Ende wäre. Er könnte auch nicht auf den Effekt hoffen, den ein Angriff von außen etwa im Iran bewirken würde: das Schließen der Heimatfront. Viele Syrer wünschen sich ja nichts sehnlicher als eine ausländische Intervention - was unweigerlich dazu führt, dass auch die Granaten von Mittwoch im Mittelpunkt von Verschwörungstheorien stehen. Aber das "Cui bono?" (Wem nützt es?) hilft hier ebenso wenig weiter wie bei der Zuschreibung von Attentaten in Syrien, die von Oppositionellen dem Regime zur Last gelegt werden, obwohl sich die internationalen Geheimdienste einig sind, dass sie aus dem Al-Kaida-Dunstkreis kommen.

Auch Ankara kann jedoch nicht an einer Eskalation interessiert sein. Die Türkei hat den Syrien-Konflikt bereits viel mehr im Land, als dies die verirrten syrischen Granaten bezeugen. Die Sorge, dass sich jihadistisch inspirierte türkische Sunniten im Kriegsfall auch gegen ihre alevitischen Landsleute wenden könnten, ist real - auch wenn es historisch und theologisch noch so falsch ist, werden arabische Alawiten und türkische Aleviten oft für ein und dasselbe gehalten, auch in der Region selbst. Mit noch größerer Nervosität sieht die Türkei aber, dass die kurdischen Gebiete auf syrischer Seite mittlerweile großflächig von Kurden kontrolliert werden - die sich auch bei einem Sturz Assads nicht automatisch zurückziehen würden. Der Krieg in der Region könnte Assad überleben. (Gudrun Harrer, DER STANDARD, 5.10.2012)