Die Toten (Puppe) mischen sich unter die Lebenden (Sung-Im Her): Marktplatz.

Foto: Needcompany

Wien - Was für eine altmodische Wohltat: Die neue Produktion von Jan Lauwers' Needcompany spielt nicht im Internet. Sie reklamiert auch kein Versteck oder einen anderen gottverlassenen Winkel, in dem eine gewaltsam hergestellte Minderheit ihr Recht einklagt.

Marketplace 76 ist die Chronik einer übersichtlich strukturierten Dorfgemeinschaft. Deren Raum fällt mit der Ausdehnung des Kasinos am Schwarzenbergplatz zusammen. Die Abfolge der Akte und Szenen orientiert sich am Wechsel der Jahreszeiten. Ein kreidegrauer Spielleiter (Lauwers, Autor und Regisseur) tritt auf und bezeichnet sich selbst als "Sergeant Pepper". Raustimmig gibt er die Koordinaten vor: "Ein kleines Dorf am Fuße eines Berges. Abgelegen. Hier herrscht Armut. Die Menschen sind bedrückt."

Das Dorf dieser Menschen ist tatsächlich der denkbar ungemütlichste Ort der Welt. Vor Jahresfrist soll sich ein furchtbares Unglück ereignet haben. Eine Gasflasche war explodiert. 24 Personen, unter ihnen sieben Kinder, kamen bei dem Unglück ums Leben. Die Dörfler bewältigen ihre Trauer, indem sie das Totengedenken wie einen Ritus handhaben.

Die Mitglieder der belgischen Needcompany, Artists in Residence an der Wiener Burg, bringen das skizzenhaft umrissene Gemeinwesen zum Pulsieren und Blühen. Lauwers und seine Mitstreiter glauben natürlich keinen Augenblick lang, dass es einen gottgefälligen Winkel gibt, an dessen Elastizität alles Unheil abprallt. Aber sie vermeiden das Bescheidwissen: das plumpe Soziologisieren.

Vor allem fällt jede einzelne Figur als Störzeichen aus dem Musterverband heraus. Gemeinschaft, so lehrt es dieser fruchtbringende Abend, wird aus Anomalien gebildet. Die Fleischersfrau (Anneke Bonnema) sitzt - als Explosionsopfer - gelähmt im Rollstuhl und entbehrt die Umarmungen ihres Gemahls (Benoît Gob). Sie kann keinen Frieden schließen mit der Tatsache, dass sie aufgrund ihrer Pflegebedürftigkeit keinen sexuellen Anwert mehr besitzt. Wie die beiden miteinander Blicke wechseln, um ein Begehren anzustacheln, das es so nicht mehr gibt: Aus solchen minimalen Bedeutungsverschiebungen bezieht die Erstaufführung von Marketplace ihren beträchtlichen Reiz.

Die Krise der Gemeinschaft ist aber auch allgemeiner greifbar. Im Ort dient die Abdeckung eines alten Brunnens als Handlungsfläche. Ein Kind (eine Puppe) stürzt aus dem Fenster. Seine Mutter (Grace Ellen Barkey) muss sich übergeben. Weggewischt werden die Spuren von zwei Müllmännern in Orange: Sweeper und Squinty sind die Anführer ei- ner Gegenöffentlichkeit, die daran erinnert, dass noch der verschwiegenste Ort seine Außenseiterpositionen kennt.

Marketplace 76 beschreibt einen Punkt, an dem sich Traditionslinien kreuzen. Die Art der Herangehensweise erinnert an das epische Theater. Die Stigmatisierung vermeintlicher oder echter Außenseiter lässt an Lars von Triers Dogville denken.

Über allen Brunnenschächten und Kunstschneewechten aber herrscht ein seliges Bedeutungsflimmern. Ein aufsässiges Mädchen wird verschleppt und missbraucht. Der Täter, ein gehemmter Installateur mit Bronchialspray, erleidet den Sühnetod durch Lynchen. Während die Kleinstadtgemeinde zerfällt, tanzt er nackt, wie ein Skelett angestrichen, den Überlebenstanz. Tote haben Sitz und Stimme in Jan Lauwers' Zauberreich. Ein zutiefst humaner Ort, der jeden Applaus verdient.  (Ronald Pohl, DER STANDARD, 6./7.10.2012)