Rigoberto Lanz.

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Der venezolanische Soziologe Rigoberto Lanz gilt als Vordenker der Revolution. Für ihn hat Hugo Chávez zwar viel geleistet, ist aber an seine Grenzen gestoßen, sagt er zu Sandra Weiss.

STANDARD: Wie geht es jetzt weiter für Venezuela, welche Lehre ziehen Sie aus der Wahl?

Lanz: Ich bin optimistisch. Dass die Rechte so gut abgeschnitten hat, wird jetzt einiges grundsätzlich infrage stellen. Die Linke braucht einen neuen Diskurs und eine neue Agenda. Wir brauchen antibürokratische Diversität, wir müssen die Volksmacht stärken.

STANDARD: Der Staat ist also ein Hindernis für die Revolution? Aber unter Chávez wurde der Staat doch immer zentralistischer ...

Lanz: Unser Ziel muss die Überwindung des Staates sein, die Emanzipation von jeder Form von Macht. Der Staat erpresst, manipuliert, sperrt ein. Leider war das bisher nicht möglich, wegen un serer autoritären Geschichte - und weil die chavistischen Parteifreunde nicht sehr offen waren für eine solche Debatte. Mit Hugo Chávez als Führungsfigur ist so etwas auch nicht denkbar.

STANDARD: Was hat Chávez' Revolution also verändert?

Lanz: Hier gab und wird es keine Revolution geben. Was sich unumstößlich verändert hat, sind die politische Praxis und das politische Bewusstsein der Menschen. Der Sozialismus ist nur eine leere Hülle. Er ist so beliebig, dass er sich selbst annulliert. Ich rede daher lieber von einer progressiven Regierung - was schon viel ist in einer Welt, die vom rechten Bürgertum regiert wird. Es wurde Raum geschaffen für die Integration neuer politischer Akteure: Frauen, Indigene, Landlose. Eine wichtige Errungenschaft ist auch, dass Chávez dem nordamerikanischen Imperialismus Einhalt geboten hat. Das allein ist schon genug, um in die Geschichte einzugehen.

STANDARD: Und was sehen Sie als eher negativ an?

Lanz: Die Monster der Bürokratie und der Korruption haben sich gegen uns verschworen. Man hätte dreimal so viel machen können in fast 14 Jahren, wenn man die Korruption bekämpft und auf Feindseligkeiten und Brandreden verzichtet hätte gegen alles, was Chávez kritisiert. Deshalb haben wir einen Großteil der Mittelschicht verloren. Mit seinem konfrontativen Stil hat Chávez diese Wähler der Rechten geschenkt. Das muss er berichtigen. Und dann gibt es Widersprüche: Der Staat entwirft Programme für die Biolandwirtschaft und fördert gleichzeitig die Agroindustrie und Großproduktion von Pestiziden.

STANDARD: Was halten Sie von den Sozialprogrammen der Chávez-Regierung?

Lanz: Es hat natürlich Fortschritte gegeben - und heute wird auch die bürgerliche Rechte nicht umhinkommen, solche Sozialprogramme vorzulegen. Aber sie haben auch paradoxerweise eine neuartige Marginalisierung geschaffen: Die neuen Kliniken sind Kliniken für Arme, Universitäten für Arme, Supermärkte für Arme. Chávez hat letztlich die bürgerlichen Konzepte nur gespiegelt. Der Monotonie der bürgerlichen Medien hat er die Monotonie der Staatsmedien gegenübergestellt.

STANDARD: Wie sehen Sie die Figur des Präsidenten selbst?

Lanz: Chávez will von einer gloriosen Vergangenheit direkt in eine utopische Zukunft springen, ohne sich mit den Widrigkeiten des Hier und Jetzt zu befassen. Ich sehe, dass er erschöpft ist. Nicht nur körperlich durch seine Krankheit, sondern auch konzeptuell. Er hat seit geraumer Zeit seinen innovativen Impuls verloren. Mir scheint, er ist an seine Grenzen gestoßen. (Sandra Weiss, DER STANDARD, 9.10.2012)