Was er am Verhalten kleiner Kinder beobachtete, arbeitete er zu einer umfassenden sozialpsychologischen Persönlichkeitstheorie mit neuronaler Basis aus: Walter Mischel in Wien.

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STANDARD: Sie sind mit den sogenannten Marshmallows-Experimenten ab den späten Sechzigerjahren berühmt geworden. Damals zeigten Sie, wie Kinder unterschiedlich reagierten, wenn sie vor der Wahl standen, gleich eine kleine oder später eine größere Belohnung zu bekommen. Sie zeigten auch, dass die Fähigkeit zum Belohnungsaufschub mit späteren Leistungen und Erfolgen zusammenhing. Was geschah seither?

Mischel: Ziemlich viel, und zwar in zwei Richtungen. Einerseits die Entwicklung einer allgemeinen Theorie individueller Unterschiede: Wer sind wir, wie kamen wir zu dem, was wir sind, und wie drückt sich das im Verhalten aus? Wobei Verhalten so weit definiert ist, dass es auch Sprache, Neigungen, Gefühle einschließt.

Damit hängt andererseits eine Neuorientierung der Forschung über Selbstkontrolle und Belohnungsaufschub zusammen, auch über die Weise, in der das Individuum die äußeren Einflüsse verarbeiten kann, indem es sie kognitiv verändert. Die kognitiven Neurowissenschaften dazu sind in den letzten Jahrzehnten aufgeblüht. Ich habe glücklicherweise ein Team von entsprechenden Experten zusammenstellen können,

STANDARD: Was haben Sie herausgefunden?

Mischel: Epigenetik ist für uns bedeutsam geworden. Wir wissen, dass der "Junk" in den Genomen durchaus wichtig ist, er hat die Funktion von Schaltern, die die DNA aktivieren. Das illustriert bestens die Interaktion zwischen dem, was in uns ist, also die DNA, und was ausgedrückt wird - was von der Zellumgebung bestimmt wird. Nun bin ich kein Molekularbiologe, doch ich sehe eine Analogie insofern, als die soziale Erfahrung sich ebenfalls in neuronalen Prozessen niederschlägt. Mind and body - zwei Seiten eines Phänomens!

STANDARD: Wie weit kann man den epigenetischen Ansatz treiben?

Mischel: Das Aufregende daran ist: Wie ein Jugendlicher sich verhält, kann sich auf seinen Enkel auswirken. Wenn unser Sozialverhalten eine Auswirkung darauf hat, was sich in unseren Zellen niederschlägt, dann stellt sich auch die Frage nach Verantwortung und Moral neu. Wenn wir also eine ernsthafte Wissenschaft individueller Unterschiede betreiben wollen, können wir mit Persönlichkeitsmerkmalen (traits) beginnen, dürfen aber nie die Interaktionen mit Umwelteinflüssen aller Art ignorieren.

STANDARD: Sie haben gesagt, dass die statischen Modelle von Persönlichkeitseigenschaften (traits) nicht Veränderungen gerecht werden, sondern sich eher auf feststehende Merkmale konzentrieren, wie ein bestimmtes Temperament, etwa Zorn.

Mischel: Gegen Zorn habe ich gar nichts. Ich denke, die Grenzen der trait theory sind durch die "Psychologie des Fremden" markiert, das heißt durch Leute, die wir nicht gut kennen. Dort kann sie ganz nützlich sein. Erste Eindrücke, die wir von Fremden haben, bestimmten früher unser Verhalten: Wem stehe ich hier gegenüber, wie kann ich adäquat reagieren? Freund oder Feind? So stellen wir erste grobe Kategorien auf, und das kann fürs Überleben wichtig sein.

Das Risiko dabei ist, dass dieses Kategorisieren zu Stereotypen führt, und das kann gefährlich sein. Wenn etwa ein Polizist jemanden erschießt, der die falsche Hautfarbe hat und am falschen Ort ist. Da haben die groben Kategorien tödliche Konsequenzen.

Die Theorie der Persönlichkeitstheorie hört dort auf, wo sie anfangen sollte. Denn viele dieser ersten Eindrücke stellen sich bei näherem Hinsehen als falsch heraus, etwa der Eindruck, dass jemand gewissenhaft oder aggressiv ist oder es nicht ist. Dann stellt man etwa fest, dass jemand in bestimmten Situationen gewissenhaft ist, aber nicht in anderen.

STANDARD: Wie haben Sie die neurowissenschaftlichen Überlegungen mit den Marshmallow-Experimenten verbunden?

Mischel: Es ist uns gelungen, fast 60 der damaligen Teilnehmer zu finden und erneut, als Mitvierziger, zu untersuchen. Zwischen den damals, vor 40 Jahren, zum Aufschub Bereiten und denen, die sofortige Gratifikation wollten, bestehen auch heute signifikante Unterschiede. Ähnliches stellten wir zwar schon vor 20 Jahren fest, aber nun kamen entscheidende neue Beobachtungen dazu: Wir fanden, dass bei den beiden Gruppen unterschiedliche Regionen im Gehirn aktiviert werden, wenn sie aufgefordert wurden, auf eine Belohnung für später zu verzichten. Bei den zum Verzicht Bereiten war der präfrontale Cortex aktiv - hier werden motivationale und Kontrollprozesse integriert -, bei den nicht Bereiten war es das ventrale Striatum.

STANDARD: Wollen Sie diese Entwicklung weiter studieren?

Mischel: Nun, wir haben 2010 eine neue Langzeitstudie begonnen, die Kinder von sechs oder sieben bis zum Alter von 15 beobachtet. Wir wollen herausfinden, ob die Unterschiede, die wir in der ursprünglichen Stichprobe nach 40 Jahren gefunden haben, schon im frühen Stadium auftreten - nun aber inklusive Gehirn-Imaging. Sind die unterschiedlichen Aktivitäten also schon bei Kindern und Jugendlichen festzustellen? Die weitere Perspektive ist nachzuforschen, wie sich Phänomene wie Selbstkontrolle, Willenskraft oder etwa das Gefühl von Freiheit im Neuronalen niederschlagen.

STANDARD: Und das alles kann man herausfinden, wenn man angesichts von Marshmallows zum Verzicht auffordert?

Mischel: Ja. Erstaunlich, nicht? Es ist zu einer kleinen Industrie geworden. Ich hätte Marshmallows-Konsulent werden können. (Michael Freund, DER STANDARD, 10.10.2012)