Félix Guattari ist Mythos und Enigma zugleich. Der 1930 im Norden Frankreichs geborene Denker entzog sich zu Lebzeiten jeder Art von einschränkender Zuschreibung. Er selbst bezeichnete sich als "Schizoanalytiker", aber auch dieser Begriff umfasst bei weitem nicht alle seine Tätigkeitsfelder. Er arbeitete mit psychisch Kranken, mit Künstlern und Revolutionären, unterrichtete, verfasste zahlreiche Bücher – darunter seine wohl bekanntesten, "Anti-Ödipus" (1972) und "Tausend Plateaus" (1980), gemeinsam mit dem Philosophen Gilles Deleuze.
Bis zu seinem Herzinfarkt-Tod im Jahr 1992 arbeitete er unermüdlich an einem umfassenden Konzept des Denkens und Handelns jenseits kapitalistischer, totalitärer und institutioneller Unterwerfung. Der kreativ-experimentelle Zugang zum Denken und Schreiben war ihm dabei stets näher als der disziplinierend-akademische. Nicht zuletzt deshalb untertitelte er sein spätes Hauptwerk "Chaosmose" (1992) mit "Ein neues ethisch-ästhetisches Paradigma".
Studium und Arbeit als Journalist
Félix Guattari studierte zunächst Philosophie und Pharmazie und arbeitete ab 1955 als Journalist für die kommunistische Zeitschrift "La voie". Er war KP-Mitglied, trat aber nach der sowjetischen Intervention in Ungarn 1956 aus der Partei aus. Sein politisches Engagement gab er danach jedoch keineswegs auf. Seit den frühen 1950ern arbeitete er in der Anstalt "La Borde", die von Jean Oury, einem Schüler des berühmtesten französischen Analytikers Jacques Lacan, gegründet worden war.
Guattari studierte selbst ab 1964 an Lacans Pariser "Ecole Freudienne" und ging bei Lacan auch in die Analyse. Mit Jean Oury und anderen begann Guattari die institutionalisierte Psychiatrie zu revolutionieren. Patienten erhielten die Möglichkeit einer erheblichen Mitgestaltung im psychiatrischen Prozess sowie in der Verwaltung der Anstalt. Dieses Modell wirkte vorbildlich für die vor allem in den 1970ern in ganz Europa entstehenden PatientInnenkollektive und Entwicklungen, die unter dem problematischen Begriff "Anti-Psychiatrie" subsumiert wurden.
Foto- und Filmmontagen
Im Mai 1968 war Félix Guattari an der Besetzung des Odéon-Theaters beteiligt und kreierte zu dieser Zeit zusammen mit Jean-Luc Godard und der legendären "Groupe Dziga Vertov" (benannt nach dem russischen Filmavantgardisten der 1920er- und 1930er-Jahre) Foto- und Filmmontagen. Im selben Jahr lernte er schließlich auch den Philosophen Gilles Deleuze kennen. Die Arbeit am "Anti-Ödipus" begann kurze Zeit später.
In den 1970ern verbündete sich Guattari mit den Kämpfen der autonomen Linken in Italien. Er beteiligte sich an der Kampagne für "freie Radios" und arbeitete ab 1976 für das legendäre Bologneser "Radio Alice". Zu dieser Zeit schloss er auch Bekanntschaft mit den bedeutendsten Theoretikern der autonomen Linken wie Franco "Bifo" Berardi oder Toni Negri. Vor allem die Parteinahme für den wegen angeblicher geistiger Anstiftung zu terroristischen Akten verurteilten Negri löste eine Diffamierungswelle gegen Guattari in französischen Medien aus. Nichtsdestotrotz setzte er sein unermüdliches politisches Engagement fort und wurde in den 1980ern zu einem Vordenker der Ökologie-Bewegung.
Mit Bezug auf den englischen Theoretiker Gregory Bateson ("Steps to an Ecology of Mind", 1972) entwickelte er den Begriff der "Ökosophie". Noch in seinem Todesjahr 1992 kandidierte er für die Grüne Partei bei Regionalwahlen. Bis zuletzt arbeitete er kontinuierlich als Analytiker in "La Borde" und publizierte weiterhin rastlos. Dennoch litt er zuweilen unter dem übermächtigen Schatten seines Freundes und Kollegen Gilles Deleuze, der aus seiner Perspektive ungleich stärker vom Ruhm der gemeinsamen Publikationen zu profitieren schien.
Politik Poetik Therapie
Die Veranstaltung "Politik Poetik Therapie – A propos Félix Guattari", die am 12. und 13.10. zu Ehren von Félix Guattari im Raum M13 an der Akademie der Bildenden Künste in Wien stattfinden wird, versucht auf zweierlei Weise an das Erbe seines Denkens anzuschließen: Zum Einen werden profunde KennerInnen seines Werkes im Rahmen von Vorträgen zentrale Stränge seiner Philosophie nachzeichnen. Namentlich sind dies: Elisabeth von Samsonow, Professorin für die Anthropologie der Künste an der Akademie, die in ihrer einflussreichen Publikation "Anti-Elektra“ (2007) zentrale Theoreme aus "Anti-Ödipus" und "Chaosmose" weiterentwickelte; Wolfgang Pircher, vor kurzem emeritierter Dozent am Wiener Institut für Philosophie und Spezialist für die im philosophischen Diskurs wenig belichteten Komplexe der Technik und Ökonomie; Anne Querrien, Soziologin, Urbanistin und ehemalige Generalsekretärin des von Félix Guattari gegründeten Centre d'Etudes, des Recherches et de Formation Institutionelles; Anne Sauvagnargues, Professorin für Philosophie an der Uni Paris X und Spezialistin für das Werk von Gilles Deleuze; Franco "Bifo" Berardi, einer der wichtigsten Theoretiker der italienischen Linken, den eine langjährige Freundschaft mit Guattari verband; in dem Buch "Félix Guattari. Thought, Friendship, and Cartography Visions" (2008) lieferte er eine ebenso persönliche wie umfassende Analyse des Denkens seines Freundes und Weggefährten.
Zum Anderen soll der hohe Aktualitätswert von Guattaris Denken in Form von Workshops sicht- und lesbar gemacht werden. Von seinen frühen Schriften zur institutionellen Analyse bis zum Spätwerk "Chaosmose" reicht ein Reflexionsbogen, der das Verhältnis von Subjekt und Gruppe, von Normalität und Alterität, von Aufbegehren und Unterwerfung, von Kreativität und Ausbeutung immer wieder neu thematisiert. In einer "unakademischen", experimentellen Situation des Gedanken- und Erfahrungsaustausches sollen deshalb Impulse gegeben und bestimmte Begriffe und Konzepte Guattaris mit der Reflexion praktischer Erfahrungen verknüpft werden. (Helmut Neundlinger, derStandard.at, 10.10.2012)