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Nebojša Kaludjerovic (56) ist seit Juli Außenminister von Montenegro und war zuvor UN-Botschafter und Kabinettschef von Djukanovic

Foto:Mary Altaffer/AP/dapd

Standard: Wann wird das erste Kapitel mit der EU geöffnet werden? Und was erwarten Sie von dem Beitritts-Prozess mit der EU?

Nebojša Kaludjerovic: Wenn alles gut geht möchten wir das erste Kapitel am 18. Dezember öffnen. Wir kennen einander sehr gut. Und wir wissen, wo unsere Probleme liegen. Wir wissen, dass dies nur der Beginn der Verhandlungen ist. Wir haben bewiesen, dass trotz einiger Vorbehalte, die Unabhängigkeit Montenegros mehr Stabilität in der Region gebracht hat.

Standard: Trotzdem gab es eine Menge Montenegriner, die mit der Unabhängigkeit Montenegros im Jahr 2006 nicht einverstanden waren. Wie beurteilen Sie den Nationsbildungsprozess seither?

Kaludjerovic: Es ist definitiv ein Prozess, aber er ist unumkehrbar. Es gibt einige Leute - immer weniger - die immer noch glauben, dass es vielleicht eine vorübergehende Angelegenheit ist.

Standard: Einige Analysten sagen, dass Montenegro 2014 der Nato beitreten könnte. Ist das realistisch?

Kaludjerovic: Wir versuchen, realistisch zu sein. Wir sind nicht bestimmten Daten nachgelaufen, weder was die EU betrifft noch die Nato. Der einzige Weg, dem Beitritt näher zu kommen, ist unseren Job zu machen. Wir möchten so schnell wie möglich sein. Ob es aber fünf, sieben oder zehn Jahre braucht, ist nicht so wichtig wie die Substanz des Reformprozesses.

Standard: Sie sprechen jetzt über den EU-Beitritt?

Kaludjerovic: Ja. Das Ziel ist nicht so wichtig wie die Maßnahmen. Wir beginnen nun den Verhandlungsprozess, der irreversibel ist. Der Schwerpunkt der europäischen Politik Montenegros liegt nun innerhalb des Landes. Und wir sind sehr zufrieden mit dem Chicago-Gipfel der Nato. Hillary Clinton hat dort gesagt, dass es der letzte "Nicht-Erweiterungs-Gipfel" der Nato war. Es ist eine politische Entscheidung unserer Verbündeten, wann sie denken, dass wir bereit sind. Aber der Beitritt wird definitiv mehr Stabilität in die Region bringen. Wir hatten auf dem Balkan in den letzten zwanzig Jahren keine Sicherheits-Arrangements als eine Art vorbeugenden Mechanismus im Fall von Problemen, die wir leider erlebt haben. Und die Nato entspricht allen unseren Sicherheits-Zielsetzungen.

Standard: Soll es ein Referendum vor dem Nato-Beitritt geben? Es ist nicht klar, ob eine Mehrheit der Montenegriner dafür ist.

Kaludjerovic: Das ist nicht in unserer Verfassung nicht definiert. Wir können entweder im Parlament oder per Referendum entscheiden. Es ist noch Zeit, zu entscheiden, was die beste Art und Weise ist.

Standard: Es gibt viele ungelöste bilaterale Themen auf dem Balkan: den Namensstreit zwischen Mazedonien und Griechenland, das Verhältnis zwischen dem Kosovo und Serbien. Welche politischen Maßnahmen braucht es zur Lösung?

Kaludjerovic: Wir haben keine offenen Probleme mit den Nachbarn.

Standard: Der Kirchen-Konflikt mit Serbien?

Kaludjerovic: Es gibt Themen, aber nicht solche, die als Probleme betrachtet werden. Aber ein Problem ist das Verhältnis zwischen Serbien und dem Kosovo, und ob die institutionelle Struktur in Bosnien-Herzegowina ermöglicht, ein Teil des EU- Integrationsprozesses zu sein. Es gibt Probleme, die ernst genommen werden müssen. Die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft ist erforderlich. Auf der anderen Seite hat sich die regionale Zusammenarbeit in den letzten zehn Jahren sehr verbessert. Die Länder haben vieles gemeinsam und den politischen Willen, die Zusammenarbeit zu intensivieren in Übereinstimmung mit unserer Europa- und Außenpolitik. Die regionale Zusammenarbeit ist für Montenegro besonders wichtig. Wir haben etwa die Zusammenarbeit im Hinblick auf ein gemeinsames Vorgehen gegen die organisierte Kriminalität in der Region innerhalb des Südosteuropa-Kooperations-Prozesses initiiert.

Standard: Die EU bemängelt, dass es an Verurteilungen fehlt, wenn es um Korruption auf höchster Ebene geht. Kroatien hat eine tiefe Transformation während der EU-Verhandlungen durchgemacht. Erwarten Sie einen ähnlichen Prozess für Montenegro?

Kaludjerovic: Jedes Land soll nach seinen eigenen Verdiensten beurteilt werden. Es gibt viele Dinge, die nicht vergleichbar sind. Die Länder sind groß oder klein, industrialisiert, mediterran oder anders. Der Fall Kroatien zeigt, dass man auf individueller Basis gearbeitet hat. Und das ist auch mit Montenegro so. Wir akzeptierten den neuen Ansatz der Europäischen Union, dass wir mit Kapitel 23 und 24 (Judikatur und Grundrechte und Justiz, Freiheit und Sicherheit, Anm. der Red.) beginnen sollten. Das ist eine Herausforderung, weil ich nicht ganz sicher bin, ob Kapitel 23 und 24 wirklich anspruchsvoller sind als einige andere. Ebenfalls anspruchsvoll sind die Kapitel Nachhaltige Ökonomie, Ökologie und Landwirtschaft und einige andere, die zu tief greifenden Reformen in unserer Gesellschaft führen können. Aber angesichts der Tatsache, dass 23 und 24 zu jenen gehören, die als erstes geöffnet werden und angesichts der Aufgaben, die wir bewältigen müssen, werden diese wahrscheinlich von ganz vom Anfang bis ganz zum Ende behandelt werden. Wir haben diesen Ansatz akzeptiert und wir widmen uns absolut, all diese Fragen anzugehen. Wir hoffen, dass wir vielleicht Kapitel 25 (Zollunion, Anm. der Red.) während der zypriotischen Präsidentschaft und zwei weitere Anfang des nächsten Jahres öffnen werden: Nämlich Öffentliche Auftragsvergabe und Forschung. Bei Kapitel 23 und 24 werden wir nach dem Screening, Aktionspläne vorbereiten und dann können wir die Kapitel nächstes Jahr formell eröffnen. Was Korruption betrifft, so ist das nicht nur ein Problem in der Region, aber wir sind uns der Größe des Problems bewusst. Wir brauchen definitiv mehr Kooperation in der Region. Und wir werden die besten Erfahrungen von neuen EU-Ländern nützen.

Standard: Ist es schwieriger, in dem kleinen Montenegro, eine effiziente Justiz aufzubauen, weil die Menschen einander kennen?

Kaludjerovic: Dies ist Teil eines Gesamtprozesses. Ja, im Grunde kennen wir einander. Aber wir werden die Institutionen und die Unabhängigkeit der Justiz stärken.

Standard: Europa ist in der Krise. Welche Art von Reformen müssen vor der nächsten Runde der Erweiterung vorgenommen werden?

Kaludjerovic: Wir verfolgen mit großer Aufmerksamkeit die Euro-Krise und die Krise in der ganzen Welt, die größte seit der Großen Depression, aber mit völlig anderen Konsequenzen. Die Krise hat sicherlich eine Müdigkeit in einigen Ländern geschaffen und wahrscheinlich einige Vorbehalte im Hinblick auf die Erweiterung noch vertieft. Doch die Erweiterung ist immer noch auf der Tagesordnung der Europäischen Union, obwohl nicht so hoch auf der Agenda wie vor der Krise. Wir denken, dass die Europäische Union nicht abgeschlossen ist, ohne die Länder des westlichen Balkans. Der montenegrinische Fall zeigt, dass die Europäische Union noch immer Anziehungskraft hat. Unabhängig von der Krise, sind wir immer noch der Meinung, dass wir dorthin gelangen müssen. Denn die Grundlagen, auf denen die EU fußt, sind unantastbar: der Euro, die Achtung der Menschenrechte, Marktwirtschaft, Freiheit, Demokratie. Alle anderen Probleme werden auf demokratische Weise gelöst werden. Wir sind zuversichtlich, dass die EU sogar gestärkt aus der Krise hervorgehen wird. Wie die Struktur der EU in sieben, zehn Jahre sein wird, ist an dieser Stelle für uns nicht wichtig. Das Ziel ist nicht wichtig. Das Ziel wird vielleicht anders sein, aber wir folgen einer Richtung.

Standard: Die Bürger in Montenegro sind allerdings weniger europäisch eingestellt als noch vor ein paar Jahren.

Kaludjerovic: Das ist wahr. Die Zustimmung liebt jetzt bei 60 Prozent. Man kann nicht erwarten, dass es keine Auswirkungen hat, wenn die Leute jeden Tag Berichte über die Probleme der verschiedenen EU-Länder im Fernsehen sehen. Aber es gibt einen Konsens in Montenegro unter allen Parteien, dass wir der EU beitreten wollen. Was die Nato betrifft - ist dies nicht der Fall. Dafür gibt es historische und politische Gründe. Aber dass dies nichts Spezifisches für Montenegro. In anderen ehemaligen jugoslawischen oder in mitteleuropäischen Ländern stieg die öffentliche Zustimmung langsam aber stetig. Wir werden uns sicherlich in den kommenden Monaten darauf konzentrieren, alle Vorteile eines Nato-Beitritts für Montenegro zu erklären. Zum Beispiel, Investoren anzuziehen.

Standard: Würden Sie noch einmal so viele Investoren aus Russland hereinholen? Es gab einige Fehlinvestitionen.

Kaludjerovic: Es gibt hier eine falsche Wahrnehmung. Wir haben unsere Investitionen diversifiziert. Man könnte auch glauben, dass die meisten Touristen aus Russland oder Serbien kommen, aber das ist nicht so: Die meisten von ihnen kommen aus der Europäischen Union, 37 bis 40 Prozent. Die EU-Bürger gehen gerne an einen sicheren und schönen Ort und es ist ein schönes Land. Montenegro hat noch eine sehr traditionelle Gesellschaft, und wir müssen durch den Prozess der Modernisierung gehen. Bulgarien und Rumänien sind noch in diesem Prozess. Wir können nicht alle Belastungen unserer Geschichte überwinden. Churchill hatte Recht, dass der Balkan mehr Geschichte produziert, als er verdauen kann. Aber wir würden wirklich gerne etwas, das wir in einer demokratischen Weise verdauen können, produzieren. Es gibt immer Alternativen, aber das ist der beste Weg. (Adelheid Wölfl, Langfassung, DER STANDARD, 11.10.2012)