Tagesfreizeit und Geldnot machen kreativ: Michael Ostrowski und Monica Reyes in Andreas Prochaskas Hit "Die unabsichtliche Entführung der Frau Elfriede Ott".

Foto: Filmladen

Kühler Blick auf Opfer und pädophilen Täter: Markus Schleinzers Regiedebüt "Michael" wurde in Cannes vorgestellt.

Foto: Stadtkino

Porträtiert Gläubige beim Gebet: Ulrich Seidls Dokumentarfilm "Jesus, du weißt".

Foto: Ulrich Seidl Filmproduktion

Regiekollektiv: Karin Berger (li.), Elisabeth Holzinger, Lisbeth N. Trallori, Lotte Podgornik.

Foto: Berger

Von "Ott" bis "Kalt", von "Glaube" bis "Küche", vom "lächerlichen Menschsein" bis zum "Reisen vor der Haustür": DER STANDARD hat fünf Filmschaffende gebeten, sich an Initialmomente, Orte oder Kollegen ihrer nun in dieser Edition erhältlichen Filme zu erinnern.

Markus Schleinzer, Regisseur von "Michael":

Anfang dieses Jahrtausends hatte eine Rebellengruppe Touristen und Hotelangestellte aus einem malaysischen Domizil in den philippinischen Urwald verschleppt. Es gelang nicht, alle Geiseln in die Schnellboote zu zwingen. Ein sich auch unter Todesdrohungen verweigerndes amerikanisches Ehepaar ließ man nach längerer Diskussion zurück.

Unter den Entführten befand sich auch eine deutsche Familie, und gerade bei telefonischen Verhandlungen um potenzielles Lösegeld nutzte man die Sprachkenntnisse des Familienvaters gerne, der einmal - als ob der gelungenen Funkverbindung allzu freudig aufgeregte Rebellen, alle von kleiner Körpergröße, lärmend um ihn herumsprangen - lauthals "Shut up!" in die Menge schrie, worauf die Entführer, wie bei einer Unart ertappte Kinder, artig erstarrten, kaum mehr zu atmen wagten und also nicht mehr störten.

Dieses Bild, das vom ständig folgenden Journalistentross aufgezeichnet wurde, und ähnliche haben mich immer beschäftigt: dass das Lächerliche, das natürlich immer im Auge das Betrachters liegt, noch an den unerwartetsten Stellen zu finden ist. Und: dass uns das Fehlerhafte alle verbindet. Wir also alle auch lächerlich sein können.

Dämonisierung und Verteufelung sind keine Werkzeuge, die uns in der Täterdiskussion weit bringen werden, auch wenn sie vielen von uns zuerst zur Hand gehen wollen. Helfen sie doch fast ausschließlich nur, um die größtmögliche Distanz zum Täter zu schaffen und uns also in Sicherheit zu wiegen, verunmöglichen dadurch aber auch den Opfern einen menschlich gebührenden Diskurs. In Michael wollte ich diese vielleicht auch egoistischen Distanzierungsformen durchbrechen.

Das Fehlerhafte und Lächerliche im Menschsein, das die Hauptfigur, ein pädophiler Täter, mit uns allen teilt, und das immer sichtbar werden muss, wenn man einem Menschen nahekommt, ist hierfür ein adäquates Mittel, auch weil seine Handlungen und Taten dadurch in keinster Weise entschuldigt werden.

Michael Ostrowski, Hauptdarsteller aus "Die unabsichtliche Entführung der Frau Elfriede Ott":

Ich bin auf Frau Ott Elfriede, der Kammerschauspielerin, gesessen, auf ihrem Rücken oben, und habe ihr auf den Hintern gehaut wie der Cowboy beim Rodeoreiten, und es hat sie durch die Wohnung gewandelt, bis sie mich abgeworfen hat, und dem Kiendl Andi bin ich mit dem Lampenschirm auf den Kopf gedonnert, und wir haben alles zusammengedroschen und die Einrichtung komplett ruiniert, bis die Frau Ott gegen den Türstock geknallt ist und k. o. war und wir sie in ein Spannleintuch gewickelt haben, und wenn sie nicht erschossen worden wäre von ihrem bösen Neffen, würde sie heute noch bei uns in der Wohnung wohnen und einen guten Apfeltee trinken,

und sie würde uns von ihrem ersten Freund erzählen, dem Werner Oskar, der damals mit ihr und ihrer Mutter immer lange ausgedehnte Spaziergänge gemacht hat und viele und ausführlich blumige Reden geschwungen hat, bis die Mutter eingeschlafen ist auf der Parkbank, und wahrscheinlich war das der Trick vom Werner Oskar, damit er alleine sein kann mit der Ott Elfriede, und vom Böhm Maxi würde sie uns vor dem Einschlafen erzählen, wie er einsam war in seinem Leben und todtraurig, obwohl er so berühmt war und so lustig, und dann täte sie uns die Tuchend bis zum Kinn hochziehen, und draußen im verwüsteten Wohnzimmer würde sie noch ein bissl fernschauen, bevor sie sich einen Motorradhelm aufsetzen würde und sich zu uns kuscheln,

und an einem Sonntag würde der Prochaska Andi zum Kaffee vorbeischauen, und der Lubrich Uwe und der Schwarzenberger Alfred täten eine Flasche Inländer-Rum mitbringen für nachher, und wir würden eine gute Biskottentorte backen im Backrohr, bis die Flammen rausschlagen aus dem Ofen, und die Torte würden wir dann servieren, und falls eine Exfreundin vorbeikommen sollte an diesem Tag, dann wüssten wir auch schon sehr genau, was zu tun ist, und diese Torte würde ganz sicher in einem Gesicht landen,

weil darum geht's im Endeffekt, um den ganzen Irrsinn und die Freude am Outrieren und an der Schmiere, und wir würden Volksschwänke aufführen für die Nachbarin und den Nachbarn in unserer Wohnung der verstorbenen Oma, und nur durch einen Bauchschuss wären wir zu stoppen, weil wir würden ein illegales Labor aufziehen im Kinderzimmer, da täten wir Outran gewinnen aus unseren Körpern, das härteste Schauspieler-Aufputschmittel,

normalerweise wird das ja aus dem Jedermann direkt herausgepresst, exklusiv in Salzburg am Domplatz nach jeder Vorstellung, aber wir täten es selber machen und an alle Laiengruppen verteilen und an der Josefstadt verchecken und in der Kantine vom Burgtheater, das wäre unser Einkommen in dieser Zeit, das wäre das, was wir tun, und am Ende des arbeitsamen Jahres würde das Kollegium Kalksburg vorbeischauen und mit uns singen:

"ja, der mensch ist was mürbes, und alles ist eitl
und kaum weht ein lüfterl scho schreins noch an scheitl
ob frisur, ob rasur, es hoidn beide ned laung
iwaroi wochsn d'hoa, owa niagands a kaumm"

Ulrich Seidl, Regisseur von "Jesus, du weißt":

Der Anstoß kam eigentlich von einem Produzenten, Martin Kraml. Er hat gefragt, ob ich nicht einen Film zum Thema Jesus Christus machen möchte. Zunächst war ein kleiner Fernsehfilm geplant. Ich habe zugesagt, weil mich das Thema interessiert - sicher auch, weil es mit meiner Herkunft zu tun hat.

Wir haben sehr ausführlich recherchiert und fürs Casting mit Gläubigen mehrere hundert Interviews gemacht. Es war faszinierend zuzuhören, wie Menschen erzählen, warum sie glauben, wie sie zum Glauben gekommen sind. Aber ich wusste nicht, ob es möglich sein wird, Menschen vor die Kamera zu bekommen, die dort das meiner Meinung nach Intimste tun, das es gibt, nämlich ein Zwiegespräch mit Gott zu führen. Die Kandidaten wussten, dass es darum gehen würde, aber bevor es nicht gedreht ist, ist nichts sicher. Die Darsteller hatten Bedenken, dass sie Privates von sich preisgeben. Ich konnte sie aber aufgrund ihres Glaubensgrundsatzes, Zeugnis abzulegen, überzeugen.

Die Recherche für Jesus, du weißt war eigentlich die Initiation für Paradies: Glaube. Ich habe dabei die Geschichte mit der Wandermuttergottes kennengelernt, das war für mich gleich eine sehr gute Spielfilmidee: Menschen gehen von Haus zu Haus und versuchen zu missionieren, das ist dramaturgisch interessant. Und die Figur der Anna Maria hat ein reales Vorbild in Jesus, du weißt.

Erledigt ist ein Thema für mich nie - so begreife ich das Filmemachen nicht. Wahrscheinlich kann man zum Thema Religion noch viele Filme machen. Was nicht heißt, dass ich sie machen werde.

Ruth Beckermann, Regisseurin von "Homemad(e)":

Filmen ist Reisen - mal über einen Kontinent, mal im Kopf. Ohne zu ahnen, wie sich das Jahr 1999/2000 entwickeln würde, entschied ich mich nach einem größeren Dreh in Ägypten für eine Reise vor meine Haustüre, in die Marc-Aurel-Straße im ältesten Viertel Wiens. Die ca. 200 m2 zwischen dem Textil-Großhandel Adi Dofts, dem Hotel von Djavad Alam und dem Café Salzgries, wo sich damals die Intellektuellen und Künstler der Stadt trafen - von Kurti Kalb über Franz Schuh, Elfriede Gerstl und Lisl Ponger bis zu Journalisten von Falter und Profil -, bildeten das Planquadrat meiner filmischen Feldforschung.

Heute seufze ich täglich, wenn ich mein Haustor aufsperre, über den Verlust dieses Informations-und Tratsch-Netzwerks, das weder durch intensives Lesen der Lokalpresse noch durch das Internet ersetzt werden kann. Nach den Wahlen im Oktober kam der große Schock, als sich die zweit- und drittstärksten Parteien zu einer Koalition fanden. Niemand hatte ernsthaft gedacht, dass die Bürgerlichen unter Schüssel so tief sinken würden, eine Regierung mit dem blauen Recken Haider und dem sanften "Finanzgenie" Grasser zu bilden. Dass dieser Tabubruch mit der Jahrtausendwende zusammenfiel, verstärkte seine Dramatik.

Der Regisseur Dieter Haspel sah prophetisch "eine psychologische Grenze fallen und die Mächtigen, die Konzerne usw. viel schamloser in unser Leben eingreifen, um die absolute Ellbogengesellschaft zu bilden". Analysen der Lage und Widerstand gegen die Regierung wurden auch und gerade im Salzgries reflektiert und machen den Film zu einem politischen Zeitdokument.

Rückblickend allerdings blieb Blau-Schwarz Episode, während der Tod des letzten Textilhändlers des einst jüdischen Textilviertels und der Verlust des letzten Wiener Kaffeehauses im Sinne eines kommunikativen Epizentrums der Stadt das Ende einer Epoche markierten.

Lisbeth N. Trallori, Koregisseurin von "Küchengespräche mit Rebellinnen":

Die Küche, ein Ort der Mitte, der unermüdlichen Frauenarbeit, ein Ort des leiblichen Genusses. Ein emotionaler Ort der Lebenspraxis, aber auch des Erinnerns an Akte der Barbarei und Verfolgung unter einer NS-Diktatur, die mit den "Anderen", den rassistisch Markierten, den Marginalisierten, der politisch-demokratischen Opposition jedweder Couleur Tabula rasa machte. Somit ein Ort des Erinnerns an das eigene Widerstehen, an das Sich-nicht-hineinziehen-Lassen in die Rituale des Mitlaufens, an das Selbstverständliche des aufrechten Gangs. An das solidarische Gefüge des Frauenwiderstands, der damit an das Licht der Öffentlichkeit gelangt.

Die vier Frauen, die von ihren mutigen Handlungen und klugen Schachzügen gegen das Nazi-Regime so unprätentiös vor der Kamera erzählen, hatten sehr unterschiedliche Möglichkeiten, etwas zu tun. Was sie eint, ist ihre Motivation, sich nicht brechen zu lassen und ihre Unbeugsamkeit zu bewahren, trotz großer Angst, permanenter Bedrohung und Lebensgefahr. Mit ihrer Erzählkunst über ihre widerständigen Aktionen lassen diese Frauen ein Stück Zeitgeschichte vor uns entstehen, das sich gegen Menschenfeindlichkeit, Ausgrenzung und Vernichtung richtet. Sie formulieren damit auch eine Ermutigung, vor allem für Jugendliche, sich in der heutigen Epoche nicht unterkriegen zu lassen und zu widerstehen.

(DER STANDARD, 13./14.10.2012)