Washington - Die USA verfügten trotz Finanzkrise und Sparmaßnahmen heuer über öffentliche Gelder für Forschung und Entwicklung (F&E) in der stattlichen Summe von umgerechnet 114,5 Milliarden Euro. Und hohe Ausgaben zahlen sich aus: Jedes Jahr geht ein Großteil der Nobelpreise in den wissenschaftlichen Kategorien in die USA - heuer waren es mit drei von sechs Ausgezeichneten sogar vergleichsweise wenig.

Aber ein Monat vor der Präsidentschaftswahl ist die US-Wissenschaft in höchster Sorge: Denn der Großteil der Forschungsgelder wird über öffentliche Agenturen ausgeschüttet - und die werden, wenn es der Kongress nicht rechtzeitig verhindert, mit Anfang 2013 kräftig gestutzt.

"Vorgehaltene Waffe"

Zwar hält das niemand für eine gute Idee. Aber so will es die "Sequestration", eine Maßnahme, die im Budget Control Act aus dem Jahr 2011 festgelegt wurde. Sie beinhaltet automatische Kürzungen in den frei zu vergebenden Töpfen - insgesamt umfassen diese Ausgaben etwa ein Drittel des föderalen Gesamtbudgets. Das Absurde daran: Eigentlich hätte diese Regelung nie in Kraft treten sollen. Schon bei ihrer Einführung als "Notmaßnahme" bezeichnet, wurde ein Komitee im Kongress damit beauftragt, sich bis 2013 eine Alternative zu überlegen.

"Es war eigentlich nur eine vorgehaltene Waffe", erklärt Matt Hourihan, der für die American Association for the Advancement of Science (AAAS) eine Analyse über die Folgen des Sparpakets anfertigte, im Gespräch mit Journalisten. Doch bis heute konnte man sich auf keine Lösung einigen. Und bis 13. November befindet sich der an vielen Fronten stagnierende Kongress ohnehin auf Wahlkampfpause.

"Niemand hätte erwartet, dass es soweit kommt." Die Fassungslosigkeit angesichts der Paralyse im Kongress ist unter den Wissenschaftsadvokaten groß. "Wir fahren mit Vollgas über die Klippe und sie einigen sich nicht", ereifert sich etwa Norman Neureiter, wissenschaftlicher Direktor bei der AAAS und Veteran der US-Wissenschaftspolitik. "Stellen Sie sich zwei Leute in einem abstürzenden Flugzeug vor. Der eine schreit: Tu etwas! Und der andere: Nein, tu du etwas! Und dann stürzen sie ab."

In Zahlen ausgedrückt

In Zahlen sieht dieser "Absturz" tatsächlich dramatisch aus: Insgesamt brächte die "Sequestration" Kürzungen von 55 Mrd. Dollar (minus 9,2 Prozent gegenüber 2012) im Verteidigungsbereich und 38 Mrd. Dollar (minus 8,2 Prozent) im Nicht-Verteidigungsbereich. Für F&E würde das laut AAAS-Berechnungen eine Verringerung zwischen zehn und zwölf Mrd. Dollar pro Jahr bedeuten - über die nächsten fünf Jahre (bis 2017) gerechnet wäre das ein Verlust von 57,5 Mrd. Dollar (minus 8,4 Prozent).

Die größten Agenturen, die Forschungsgeld erhalten und in Form von Förderungen, Zuschüssen und Projekten weitergeben, sind das Department of Defense (DOD; 2012 bei 77,75 Mrd. Dollar) für Forschung im verteidigungsrelevanten Bereich, die National Institutes of Health (NIH; 31,2 Mrd. Dollar) für Gesundheitsforschung, die Energieprogramme, die mit insgesamt 12,99 Mrd. Dollar zu den großen Gewinnern der Obama-Administration zählten, außerdem die NASA (9,8 Mrd. Dollar) oder die National Science Foundation (NSF; 6,09 Mrd. Dollar). Mit 82,27 Mrd. Dollar erhält die Forschung im Verteidigungsbereich (neben dem DOD etwa auch durch Homeland Security und andere Geldgeber) deutlich mehr Finanzierung als die übrige Wissenschaft (66,62 Mrd. Dollar).

Daran soll sich auch nach der "Sequestration" nichts ändern. Im Gegenteil - der Vorschlag, den Verteidigungsbereich aus den Kürzungen völlig auszunehmen, ist im Kongress durchaus auf offene Ohren gestoßen. "Das würde bedeuten, dass die Einsparungen im Verteidigungsbereich auf die anderen Bereiche aufgeteilt werden", erklärt Hourihan. "Das wäre vernichtend, es würde die Budgets zumindest um eine Dekade zurückwerfen." Der wichtigste Geldgeber für medizinische Forschung, das NIH, könnte bei dieser "unausgeglichenen Lösung" zugunsten der Verteidigung fast 18 Prozent seines Budgets verlieren.

"Die Auswirkungen für die Universitäten wären enorm", betonte Steven Fluharty, Forschungsdirektor an der University of Pennsylvania, in einer Pressekonferenz. Allein seine Uni würde in den nächsten fünf Jahren etwa 250.000 Forschungsstipendien weniger zur Verfügung haben. Vor allem für junge Wissenschafter sind das keine guten Nachrichten: Schon jetzt liegt das Durchschnittsalter für das erste NIH-Stipendium bei 42. "Es wird ein schmerzhafter Prozess", sagt auch Angelika Amon, österreichische Krebsforscherin am Massachusetts Institute of Technology (MIT), "den viele nicht überleben werden." 

Warten auf das Wahlergebnis

Mit einer engen finanziellen Lage in den kommenden fünf bis zehn Jahren rechnen alle - dass die "Sequestration" wirklich mit voller Härte kommt, will noch niemand so wirklich glauben. "Die Unterstützung für Wissenschaft ist in beiden Parteien groß", erklärt "Science"-Herausgeber Alan Leshner. "Und eigentlich ist allen klar, dass so ein Einschnitt ein sehr primitives Instrument ist. Für ein intelligentes Budget müssen mehr Fakten auf den Tisch und überlegte Entscheidungen getroffen werden." Aber der Stichtag rückt näher - und dass sich bis dahin am Kräfteverhältnis im Kongress Wesentliches geändert haben wird, scheint unwahrscheinlich.

"Das wichtigste für die Forschung ist momentan der Kongress, da wird die Wahl eine Richtungsentscheidung bringen", betonte Norman Neureiter. "Die Gefahr unter Mitt Romney und Paul Ryan wäre, dass die Verteidigung auf Kosten der anderen geschützt wird." Barack Obama dagegen habe in seiner Amtszeit "sehr klar für die Forschung Position bezogen, vor allem was saubere Energie, aber auch die medizinische Forschung betrifft" - dass die wissenschaftliche Gemeinschaft mehrheitlich demokratisch orientiert ist, hat in den USA ohnehin Tradition.

"Vielleicht muss man sich die Frage stellen: Wie viel Wissenschaft braucht ein Land?", bemühte sich Angelika Amon um eine objektive Sicht. "Hier gab es immer sehr viel - möglicherweise wird da in Krisenzeiten ein natürlicher Kontraktionsprozess eingeleitet." Sie selbst würde zwar am liebsten jeden Cent in die Forschung stecken. "Aber selbst ich muss mich in Zeiten wie diesen fragen: Soll ich lieber an meinen Hefezellen weiterforschen, oder soll man das Geld nicht vielleicht lieber in Bildung investieren?"

"Vom Dingemachen haben wir uns auf das Geldmachen verlegt"

Auf der anderen Seite steht die vieldiskutierte Frage, ob nicht den Budgetproblemen des Landes nur durch Forschung begegnet werden kann: Der höchste Defizitposten ist das Gesundheitswesen und auch beim Thema Wirtschaftswachstum pochen sowohl Obama als auch Romney auf die Bedeutung von Innovation. Experten sehen allerdings gerade hier Aufholbedarf für die USA. "Wir schieben gern die Finanzkrise vor - aber es geht nicht nur darum", ist Robert Atkinson von der Information Technology and Innovation Foundation (ITIF) überzeugt. Gemeinsam mit Stephen Ezell hat er soeben ein Buch unter dem Titel "Innovation Economics" (Yale University Press) vorgelegt, in dem er ein düsteres Bild von der Entwicklung der USA im Innovationsbereich zeichnet.

"Vom Dingemachen haben wir uns auf das Geldmachen verlegt", diagnostiziert Atkinson die Entwicklung des vergangenen Jahrzehnts. Noch im Jahr 1990 habe die USA mehr in Forschung investiert als die ganze restliche Welt zusammen. "Innovation ist kein Geschenk des Himmels. Es ist das Ergebnis von Investition." Im globalen "Wettrennen um Innovation" habe man nur deshalb vorne mitgespielt, "weil wir daran gearbeitet haben". Stattdessen werde die Führungsrolle der USA gerne als unumstößliche Selbstverständlichkeit gewertet. "Tatsächlich spielen in dem Bewerb viele Länder mit - manche mit schlechten Strategien, wie China oder Argentinien, mit der Manipulation von Standards und intellektuellem Diebstahl. Andere mit guten Strategien: Mit Investition in Bildung, Forschung, Innovation."

"Science"-Chef Alan Leshner schlägt in dieselbe Kerbe und sieht die Rolle der USA auch als Weltmacht in der Forschungsförderung in Bedrängnis. "Die EU baut in diesem Bereich massiv aus, mit Großprojekten, wo sehr viel Geld in die Hand genommen wird. Auch wir haben an den Beispielen von Robotik, von Google, vom Genom Projekt gesehen: Die Investitionen in Forschung kommen hundertfach zurück. In ökonomisch schwierigen Zeiten den wissenschaftlichen Fortschritt einzubremsen, halte ich für eine sehr schlechte Idee. (APA/red, derStandard.at, 12. 10. 2012)