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Nach einer nächtlichen Fressattacke kann es mitunter leer aussehen im Kühlschrank.

"Vor zwei Wochen habe ich wieder begonnen, meine Küche nachts abzuschließen, und den Schlüssel meiner Nachbarin gegeben. Die erste Nacht war heftig. Ich bin mehrmals aufgewacht mit einem unglaublichen Drang, irgendetwas in mich hineinzustopfen. Ich hatte regelrecht Entzugserscheinungen." Elisabeth Brunnbauer ist eine "Nachtesserin". Sie leidet am Night-Eating-Syndrom (NES), einem Phänomen, das ihr Nacht für Nacht den Schlaf raubt und sie zum Essen zwingt.

Charakteristisch für das NES ist die Nahrungsaufnahme abends und vor allem in der Nacht. Tagsüber haben Nachtesser wenig bis gar keinen Appetit. Mit dem Abendessen allerdings beginnt das unstillbare Verlangen nach vorwiegend kohlenhydratreicher Nahrung - ein Zustand, der über die Nacht anhält. 

Übergewichtige Menschen und gestresste Personen sind ebenso gefährdet, am Night-Eating-Syndrom zu erkranken, wie Menschen mit Depressionen oder Angsterkrankungen. Auch Alkohol- und Tablettenmissbrauch wird bei NES-Patienten häufig beobachtet.

Keine schlechte Angewohnheit

Die Risikogruppen sind also klar definiert, trotzdem ist das Syndrom noch relativ wenig erforscht. Schätzungen zufolge plündern etwa ein bis zwei Prozent der Bevölkerung nachts ihren Kühlschrank. "Das ist relativ viel - einer unter hundert, damit ist das NES beinahe häufiger als Magersucht", sagt der Wiener Essstörungsexperte Andreas Karwautz und ergänzt: "Lange Zeit wussten von diesem Syndrom nur Eingeweihte und es wurde unterschätzt, weil die Betroffenen selten darüber sprechen. Im Moment werden Erkrankte genauso stigmatisiert wie früher Patienten mit Bulimie."

"Das Night-Eating-Syndrom ist mehr als eine Essstörung", sagt der US-Mediziner Albert Stunkard, der in den 50er Jahren das NES als Erster beschrieb. Schlechte Angewohnheit ist Nachtessen jedenfalls keine, vielmehr bezeichnet Stunkard das NES als "klinische Erkrankung, die in Schwankungen des Hormonspiegels reflektiert wird".

Heute gilt das NES als spezifische Art der Essstörung, denn anders als bei etablierten Störungen wie Anorexie und Bulimie nehmen Nachtesser viel kleinere Kalorienmengen zu sich und erbrechen das Gegessene auch nicht. Im Gegensatz zu dem Phänomen der Binge Eater, die unkontrolliert auch große Mengen in sich hineinstopfen, essen NES-Patienten kontrolliert. "Nachtesser nehmen etwa 75 Prozent des täglichen Kalorienbedarfs in der Nacht zu sich, viele kommen in Summe auf die gleiche Nahrungsmenge wie gesunde Menschen und werden dadurch auch nicht übergewichtig", erklärt Karwautz. 

Der aktivierte Stoffwechsel sorgt bei den Betroffenen für Schlafstörungen und Stimmungsschwankungen. Gefährlich kann die nächtliche Schlemmerei für Diabetiker werden. "Heikel wird es dann, wenn in der Nacht gegessen und kein Insulin gespritzt wird", sagt Karwautz.

Teuflische Hormonkombination

Eine Studie der amerikanischen Penn-Universität aus dem Jahr 2006 hat die Hormonschwankungen im Detail offenbart. Nachtesser besitzen niedrigere Melatonin- und höhere Kortisolwerte als die "gesunde" Kontrollgruppe. Das Schlafhormon Melatonin steuert den zirkadianen Rhythmus - wird zu wenig davon produziert, leidet auch darunter der Schlaf.

Verschlimmert wird die Lage noch durch niedrige Leptinwerte. Dieses Hormon sorgt normalerweise dafür, dass nachts kein Hunger aufkommt. Zu wenig davon und zu viel an Kortisol, einem Hormon, das für die Steigerung des Appetits verantwortlich ist, erweist sich als teuflische Kombination: Ein unbeherrschbarer "Gusto" treibt die Erkrankten aus dem Bett zum Kühlschrank und führt in manchen Fällen auch zu Übergewicht.

Kein therapeutischer Standard

Darin liegen auch auf Dauer die gesundheitlichen Folgen von NES, denn ein hoher Kortisolspiegel wird mit Fettleibigkeit, Typ-2-Diabetes, Bluthochdruck und hohen Cholesterinwerten in Zusammenhang gebracht.

So dünn die Forschungslage über die Ursachen des Syndroms ist, so sehr mangelt es auch an erfolgreichen Therapien. "Das Wissen ist noch sehr bescheiden. Ein Zusammenspiel aus psychologischer und medikamentöser Behandlung sowie einer Lichttherapie zeigt jedoch die besten Ergebnisse", sagt Andreas Karwautz, der die Ambulanz für Essstörungen am Wiener AKH leitet. Einen therapeutischen Goldstandard gibt es derzeit jedoch nicht. "Ich beobachte an mir, dass sehr viele Faktoren eine Rolle spielen", berichtet die Betroffene Elisabeth Brunnbauer. "Deshalb ist es wohl so schwer, NES zu besiegen." (Gabriele Poller-Hartig, derStandard.at, 12.10.2012)