Im Oktober und Dezember bestreitet Jesper Juul mehrere Vorträge und Workshops in Österreich.

Foto: Family Lab

Diese Serie entsteht in Kooperation mit Family Lab Österreich.

Eine Leserin berichtet:
Wir sind eine vierköpfige Familie mit zwei Töchtern. Die ältere Schwester ist zwei Jahre, die Jüngere fünf Monate alt. Das Problem ist, dass die Ältere ihre Babyschwester schlägt. Manchmal so fest, dass die Kleinere schreit. Das passiert fast täglich und hat sich in der letzten Zeit verschlimmert, vor allem dann, wenn ich die Kleine stille, sie auf meinem Schoß sitzt oder auf dem Boden liegt.

Wir verstehen die Eifersucht der Älteren, aber ihr Verhalten können wir nicht akzeptieren. Wir versuchen ihr zu erklären, dass sie ihrer Schwester weh tut und sie traurig macht. Die Ältere beginnt dann oft auch zu weinen oder haut sogar noch einmal zu, wenn wir streng mit ihr sind.

Sie ist es gewohnt beide Eltern die ganze Zeit für sich zu haben und hat offensichtlich Probleme damit, dass die Kleine jetzt Aufmerksamkeit von ihr abzieht. Wir haben schon probiert, uns als Eltern für die Kinder "aufzuteilen", damit beide viel Aufmerksamkeit und Zeit bekommen. Was können wir ändern, damit sie mit dem Schlagen aufhört? Ist das eine Phase, die vorübergeht?

Jesper Juul antwortet:
Sie schreiben, dass Sie versuchen, sich als Eltern aufzuteilen, damit beide viel Aufmerksamkeit und Zeit bekommen. Das ist ein schöner Gedanke. Aber bei diesem Konflikt geht es um viel mehr als nur um genug Zeit und Aufmerksamkeit.

Wenn Kinder auf einmal ein großer Bruder oder eine große Schwester werden, erleben sie das als einen plötzlichen Verlust. Ihre Tochter hat die Hälfte von dem verloren, was ihr die Eltern ihr ganzes Leben lang gegeben haben. In der Erwachsenenwelt ist das zu vergleichen mit der Situation, dass Ihr Mann eines Tages mit einer neuen Frau nach Hause kommt und verlangt, dass sie nun zu dritt glücklich weiterleben.

Die Reaktion Ihrer Tochter ist Aggression - oder eher ein Cocktail aus Trauer, Schmerz, Wut und dem Gefühl, nicht wertvoll zu sein. All das drückt sich in aggressivem Verhalten oder groben verbalen Äußerungen aus.

Kinder kooperieren mit ihren Eltern in dem Sinn, dass sie das Verhalten der Eltern nachahmen und alles tun, um sich an die Bedürfnisse und Wünsche der Eltern anzupassen - an die bewussten und die unbewussten.

Während Ihrer Schwangerschaft mit der jüngeren Tocher war die ältere umgeben von Eltern und anderen Erwachsenen, die ihre Freude und Liebe im Hinblick auf das neue Familienmitglied ausgedrückt haben. Sie hat so gut wie möglich versucht, diese Gefühle zu ihren eigenen zu machen, obwohl ihre Fähigkeit, sich ihr Leben mit einer Babyschwester vorzustellen, sehr beschränkt sind.

Obwohl die Liebe und die Fürsorge ein Geschenk für das Neugeborene sind, machen sie das Leben für das Ältere schwer. Sie hat den inneren Drang, so zu fühlen wie die Erwachsenen, aber gleichzeitig fühlt sie etwas ganz anderes, das sonst niemand fühlt - den Verlust. Die ersten Jahre ihres Lebens hat sie die Gegenwart, das Mitgefühl, die Aufmerksamkeit und die Bereitschaft ihrer Eltern, auf ihre Bedürfnisse zu reagieren, als Liebe verstanden. Nun bekommt sie plötzlich weniger davon, sie muss es mit einem Baby teilen und daher fragt sie sich, ob sie noch geliebt wird. Sie muss mit diesem Verlust alleine fertig werden.

Wenn eine Zweijährige wortgewandt genug und fähig wäre, ihre existentielle Situation verbal auszudrücken, müsste sie ihre Schwester nicht schlagen. Sie tun es, um auf ihren Schmerz, ihre Frustration und ihre Sehnsucht aufmerksam zu machen. Sie braucht Anerkennung.

Als Alternative zum Beschuldigen und Maßregeln schlage ich oft vor, dass der Vater der Familie sich dieses Themas annimmt. Denn die meisten Väter haben eine ähnliche Erfahrung gemacht, als das erste Kind geboren wurde: Sie wurden plötzlich auf der Top-10-Liste ihrer Frau von Platz 1 auf Platz 2 gesetzt. Ohne Chance, jemals wieder die frühere Position zu erlangen. Doch der erwachsene Mann und Vater realisiert schnell, dass zwischen der Liebe einer Mutter zu ihrem Kind und der zu ihrem Partner ein signifikanter Unterschied besteht. So löst sich das Gefühl der Eifersucht normalerweise auf.

Für Ihre Zweijährige ist das nicht so. Sie muss dieselbe Art von Liebe mit einem anderen Kind teilen. Was sie daher braucht, ist einen Vater, der sie auf die Schoß nimmt oder mit ihr einen Spaziergang macht und ihr sagt, dass er sie versteht. Er könnte zum Beispiel sagen: "Ich kann verstehen, dass dir danach ist, deine Schwester manchmal zu hauen, obwohl du sie auch gern hast. Ich fühle mich manchmal genauso. Ich will die Kleine nicht hauen, aber es stört mich manchmal, dass sie so viel Zeit und Energie von deiner Mutter braucht. Aber ich glaube, wir gewöhnen uns daran."

Diese Worte müssen direkt vom Herzen kommen. Sie funktionieren nicht, wenn sie bloße Strategie sind. Wenn sie aber von Herzen kommt, wirken sie Wunder. Der Vater sollte die Mutter aktiv entlasten und sich um das Baby kümmern, damit die Mutter mehr Zeit für die Ältere hat. Sie werden sehen: Ungefähr nach einer Woche wird die ältere Schwester mit ihrem aggressivem Verhalten aufhören und beginnen, ihre eigenen Grenzen festzulegen. Denn sie hat nun gelernt, dass sie sich an ihre Eltern wenden kann, wenn sie in ihren Gefühlen verletzt ist. (derStandard.at, 14.10.2012)