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Die Polizei von Marseille - hier bei einer Kundgebung für einen bei einer Schießerei schwer verwundeten Kollegen - hat in der Hafenmetropole nicht immer einen guten Ruf.

Foto: Reuters / Jean-Paul Pelissier

Die Kulturhauptstadt 2013 verschließt gern die Augen vor der brisanten Lage in den Banlieues.

 

Der Vieux Port, der alte Hafen, ist eine einzige Baustelle: Ganz Marseille putzt sich für das Ereignis als europäische Kulturhauptstadt des nächsten Jahres heraus. Im Café OM, wo der Fußballklub Olympique Marseille traditionell seine Siege feiert, genießt die südfranzösische Stadtjugend die Herbstsonne und überfliegt die neueste Schlagzeile im Lokalblatt La Provence: "Polizisten am Tag, Ganoven in der Nacht!"

30 Mitglieder der sogenannten Nord-Brigade - der Drogenpatrouille der Marseiller Polizei in den nördlichen Einwanderervierteln - wurden justament jener Delikte überführt, die sie eigentlich verhindern sollten: Dealen, stehlen, erpressen. Im doppelten Plafond in den Büros der Polizeieinheit fanden die Ermittler Haschisch-Pakete, Schmuckstücke und Bargeldbündel.

Frankreichs Innenminister Manuel Valls - der Sozialist ist erst seit der Vereidigung von Staatspräsident François Hollande Mitte Mai im Amt - reagierte umgehend, machte kurzen Prozess und löste die Nord-Brigade auf. Die Autorität der Polizeibehörde stellte er mit diesem Schritt aber keineswegs wieder her: Erst am Donnerstag durchlöcherten zwei mit Schminke maskierte Killer vor dem Café Derby, also auf offener Straße, einen Ganoven mit elf Kugeln. Es war der bereits zwanzigste Milieumord in diesem Jahr. Willkommen in der europäischen Kulturhauptstadt 2013.

Auch Anwalt Frédéric Monneret, der zahlreiche Klienten im Halb- und Unterweltmilieu hat, schüttelt nur noch den Kopf. "Früher galt im Marseiller Hafen noch eine Art Ehrenkodex", meint er, in seinem vornehmen Büro sitzend, das eine Ferrari-Imitation schmückt. "Die Banditen heckten schlaue Pläne aus, bei denen sie so gut wie nur irgendwie möglich Opfer zu vermeiden suchten. Heute hingegen dominieren in den Vorstädten Banden, die schon für ein paar Gramm ‚Shit‘ (Haschisch, Anm.) mit Kriegswaffen drauflos ballern, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden."

Und was hält der Strafverteidiger stadtbekannter Gauner von den "Flics" (Polizisten, Anm.) der Nord-Brigade, die folgerichtig auch zu seinen Klienten zählen? "Diese jungen Polizisten haben den Kopf verloren. Sie kamen mit der extremen Anspannung und der extremen Gewalt in der Nordzone der Stadt einfach nicht zurecht."

In dieses urbane Niemandsland führt eine einzige Buslinie, die 25. Wer an der Haltestelle La Castellane aussteigt, fühlt sich sofort beobachtet. Mindestens ein "chouffeur" - so werden die Wachposten der Drogengangs genannt - überwacht im Schatten eines vierzehnstöckigen Wohnblocks den Eingang in die Cité. Etwas weiter vorne verfolgt ein weiterer Mann mit demonstrativ uninteressiertem Blick den Besucher. Ein "charbonneur", wie man die eigentlichen Drogenverkäufer im Innern der Cité nennt?

Emmanuel Daher vom Sozial- und Kulturzentrum La Castellane, genannt Manu, schweigt vielsagend. Der coole Sozialarbeiter aus dem Libanon ignoriert die Dealer: Man lässt sich in Ruhe und geht sich aus dem Weg. Manu ist zuständig für die Prävention von Jugendkriminalität, aber er muss einräumen: Dealen ist mit Abstand der lukrativste Job in La Castellane, wo die Hälfte der 7000 Bewohner keine Steuern zahlt, weil sie dafür zu wenig verdient. Die Kids kommen schnell auf den Geschmack. Und auf die Gewalt.

80 Euro für eine Pistole

"Für 80 Euro kriegst du heute überall eine Neun-Millimeter." Das ist eine Pistole, erklärt Manu. Und: "Mit neun Millimetern kannst du einen Menschen töten."

Und die Lage in der Cité ist immer angespannter. Auch sozial. "Die Wirtschaftskrise trifft die Ärmsten besonders hart", meint Zentrumsleiter Nassim Khelladi, 20 Dienstjahre in La Castellane am Buckel. "Das steigert die Spannungen und die Gewalt in der Familie - und das überträgt sich auf die Jüngsten. Und wenn sie sich im Stadtzentrum für ein Job-Praktikum bewerben, werden sie abgewiesen, sobald sie sagen, sie kämen aus La Castellane."

Dort, im Zentrum, so meint Manu, wolle man die Dealer gar nicht wirklich aus La Castellane vertreiben: In Marseille sei man froh, dass der Drogenhandel in den entfernten Cités stattfinde, ohne auf die Stadt überzugreifen. Nach neuesten Berichten wusste die Polizeiführung schon seit 2009 von der Korruption in der Nord-Brigade, doch niemand schritt ein.

Warum auch? Die Gauner-Flics sorgten dafür, dass die Dealer in der Nordzone blieben. Damit war allen gedient. Das Ganze flog erst auf, als sich die mörderischen Vendettas bis nach Marseille-Stadt ausdehnten. Da mussten die Behörden reagieren. Jetzt wird die Nord-Brigade neu organisiert. La Castellane erwartet sich aber nicht allzu viel davon. (Stefan Brändle aus Marseille /DER STANDARD, 13.10.2012)