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"Aufklärer und notorischer Widerspruchsgeist, unbequem, störrisch oft und längst nicht immer auf der Höhe des erforderlichen Kenntnisstandes" : Schriftsteller Günter Grass.

Foto: apa /EPA/Bimmer

Günter Grass gilt unter den Deutschen als bedeutende Geistesgröße, als der herausragende Repräsentant deutscher Nachkriegsliteratur. Kein deutscher Schriftsteller nach Thomas Mann hat eine vergleichbare Ausstrahlungskraft entfalten können. Und doch scheiden sich an seiner Person die Geister. Für die einen ist der unbequeme Querdenker, der sich der Sozialdemokratie verbunden weiß, ein rotes Tuch. Andere sehen ihn als Moralprediger, der durch sein verspätetes Eingeständnis, als 17-Jähriger für ein paar Monate bei der Waffen-SS gewesen zu sein, seine Glaubwürdigkeit erheblich beschädigt hat.

Grass - ein Säulenheiliger mit Schatten. Darüber gerät oft in Vergessenheit, dass es sich bei Grass um einen der wichtigsten Schriftsteller der Gegenwart handelt, dessen Werk das gesellschaftliche Klima in Deutschland wie kein anderes spiegelt - und dabei eine Menge Reizstoff bietet. Man reibt sich an diesem Autor, dessen Karriere 1959 mit dem Roman Die Blechtrommel wie mit einem Trommelwirbel begann. Es war die Geschichte des Glas zertrommelnden Gnoms Oskar Matzerath, und es war zugleich auch die Lebensgeschichte seines Autors: Die Herkunft aus dem Kaschubischen, die Jugendzeit im Weichselland und in Danzig, der Ausbruch von Faschismus und Krieg und das Wiederfinden der Romanfiguren in Westdeutschland. Für dieses Buch, dem Jahrzehnt um Jahrzehnt weitere große Epen folgten, erhielt Grass vierzig Jahre später den Literaturnobelpreis.

In diesen Jahrzehnten entwickelte sich Grass aber auch zum Enfant terrible der deutschen Nachkriegsliteratur - und zur Feindfigur des bürgerlichen Lagers im Adenauer-Staat. Grass schloss sich frühzeitig der SPD an, freundete sich mit Willy Brandt an - und trommelte in Bundes- und Landtagswahlkämpfen für die Sache der Sozialdemokraten. Nicht immer zum Wohlgefallen seiner Partei, die er zwischenzeitlich auch im Zorn wegen ihrer Asylpolitik verließ.

Doch die Glas zersingende und trommelnde Nervensäge des Oskar Matzerath blieb als Figur wie keine andere an Grass kleben. Sie wurde zum Inbild ihres Schöpfers - und dies in einer Zeit des Umbruchs, als eine neu heranwachsende Generation in den 1960er- und 1970er-Jahren Tradition und Autorität in allen Gesellschaftsbereichen infrage stellte. Grass wurde verfolgt von Pornografie- und Blasphemievorwürfen. Auf die Blechtrommel und die Novelle Katz und Maus folgten die großen Romane Hundejahre und Der Butt, Bestseller auch sie.

Der politisch engagierte Intellektuelle brach sich bei Grass aber immer deutlicher Bahn. Er wurde etwa seit Beginn der 80er-Jahre immer klarer zu jenem Teil seiner Persönlichkeit, der den anderen Teil - den Schriftsteller - in den Abgrund zu ziehen drohte. Mal gab er dabei den Querdenker oder Querulanten, mal trat er in der Rolle des guten Gewissens auf und zehrte dabei vom symbolischen Kapital einer moralischen Autorität, die sich freilich der literarischen verdankte.

Viele Kritiker stellten sich auf den Standpunkt, dass ein Mann mit einem solch einseitigen politischen Engagement kein guter Autor sein könne. Und Grass selbst, der sich als Citoyen, als Verfassungspatriot sieht - er nahm übel, verzieh den Feuilletons nie, wenn seine Bücher niedergemacht wurden. Schon bei Örtlich betäubt oder dem Tagebuch einer Schnecke reagierte die Presse zunehmend gereizter. Und als dann 1986 die Rättin erschien, ging ein einziger Aufschrei durch den Blätterwald. Das Erzählwunder Grass wurde in die Ecke gestellt, für mausetot erklärt. Eine große Begabung, zu früh verbraucht. Grass schien am Ende.

Doch die meisten hatten ihn unterschätzt, ihn vielfach auch nicht ernst genommen. Wo sie ihn mit vermeintlich literarischen Argumenten kritisierten, meinten sie in Wahrheit seine politisch links orientierte Empathie. Die Unkenrufe und das herrliche Prosastück Das Treffen in Teltge, außerdem Lyrik, Theaterstücke, Essays - und immer wieder der Zeichner und Illustrator seiner Texte. Vieles wurde da kaum noch wahrgenommen.

Als dann die Wende kam und Grass mit dem Roman Ein weites Feld auf dieses Ereignis reagierte, war der Eklat da. Marcel Reich-Ranicki, seit langem mit Grass in Fehde verstrickt, posierte auf dem Cover des Spiegel als furchtbarer Bücherzerreißer, in seinen Klauen der neue Roman von Grass. Doch der reanimierte seine Produktivität - mit Büchern wie Mein Jahrhundert oder Im Krebsgang, in denen man freilich vergeblich nach dem erzählerischen Kraftgenie des Autors suchte. Wiederum handelte es sich meist um politisch-historische Texte, die bereits in das wärmende Licht der Altersmilde getaucht schienen.

Dann aber 2006 der Paukenschlag, der auch eingefleischten Grass-Jüngern die Verteidigung des Autors zur Qual machte. In seiner Autobiografie Beim Häuten der Zwiebel bekannte Grass in dürren Sätzen, als junger Mann drei/vier Monate bei der Waffen-SS gewesen zu sein. Jetzt brachen die Dämme. Wohl noch nie in Deutschland fiel die öffentliche Meinung so massiv über einen Schriftsteller her wie im Fall Grass.

Doch der fühlte sich im Recht, sprach von Gleichschaltung der Medien und warf den Kritikern vor, ihn, den Bürger Grass, mundtot machen zu wollen. Gewiss ist Grass ein gewisses präzeptorales Wesen nicht fremd, aber erst diese Einheit - der politisch sich einmischende Intellektuelle - und der Schriftsteller und Künstler auf der anderen Seite - erst diese außergewöhnliche und in Deutschland auch ungewöhnliche Doppelnatur hat Grass zu dem gemacht, was er ist: ein Aufklärer und notorischer Widerspruchsgeist, unbequem, störrisch oft und längst nicht immer auf der Höhe des erforderlichen Kenntnisstandes.

Dabei hat der 85-Jährige etwas von jenem legendären Winkelried, der die Speere des Gegners mit entblößter Brust auf sich zu lenken sucht. Bei Grass sind dies die Journalisten, die noch jeden Seufzer des Nobelpreisträgers registrieren. Der immer wieder aufflammende Streit um seine Äußerungen zum politischen Welt- und Tagesgeschehen - gerade auch wenn er sie in Gedichtform vorträgt -, zeigt freilich einmal mehr wie im Fall des Atomkonflikts zwischen dem Iran und dem Westen, wie komplex und vergleichslos gerade in Deutschland der Versuch ist, mit Vergangenheit angemessen umzugehen. Dass er in Gedichtform die Atommacht Israel und ihre derzeitige Regierung attackierte, den Staat der Juden als Bedrohung des Weltfriedens angriff, führte zu unbeherrschten zornigen Reaktionen - nicht nur in Israel selbst, dessen Innenminister den deutschen Nobelpreisträger mit Einreiseverbot belegte. Sogleich wurde Grass Antisemitismus vorgeworfen.

Auch seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS, die er jahrzehntelang verschwiegen hatte, kam jetzt wieder aufs Tapet. Es nützte Grass auch nichts, dass er jetzt in einem neuen Gedichtband - Eintagsfliegen - seine israelkritische Position ausdrücklich auf die amtierende Regierung von Ministerpräsident Netanjahu eingrenzte. Es war die Rache an einem, der sich lange Zeit als Moralapostel aufgespielt und sich in der von Nietzsche beschworenen Kunst des "feinen Schweigens" zur eigenen Vergangenheit gefallen hatte. Aber da gibt es eben das Dilemma zwischen Poetik und Politik. Die Kritiker übersehen häufig, dass Grass kein Politiker ist - auch wenn er in jüngeren Jahren dieses Geschäft "nebenbei" gerne betrieben hätte.

Günter Grass ist ein Künstler mit oft merkwürdigen Meinungen und Ansichten. Dass er bei seinen Auftritten in der Öffentlichkeit starke, kollektive Abwehrreflexe provoziert, liegt nicht zuletzt an der kontinuierlichen Entwicklung eines Medienrummels ohnegleichen, dem sich der Autor selbst häufig genug ausgesetzt hat. Dichter und Repräsentant - beides wollte er in einer Person sein, darin nicht unähnlich Thomas Mann, mit dem ihn ansonsten kaum etwas verbindet.

Wenn Grass heute über deutsche Befindlichkeiten spricht, kommt einem unwillkürlich jenes von ihm in den Sechzigerjahren gezeichnete Bild des kammgeschwollenen Hahns wieder in den Blick, und man erinnert sich an das Nietzsche-Wort: "Die Uhr schlägt, das Käuzchen ruft, da muss doch ein Zusammenhang bestehen ..."   (Wolf Scheller, Album, DER STANDARD, 13./14.10.2012)