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Im Alter muss der Mensch anderen nichts mehr beweisen.

"Möchten wir tatsächlich in einer Welt ohne alte Menschen leben?" Mit dieser Frage eröffnete Boglarka Hadinger, Lehrtherapeutin und Leiterin des Instituts für Logotherapie und Existenzanalyse Tübingen/Wien, am Donnerstag ihren Vortrag "Die Auserwählten - oder wodurch die vierte Phase des Lebens heller wird" im Wiener AKH. Darin ging sie der Frage nach, warum der Mensch eigentlich solche Angst vor dem Alter und Älterwerden hat, und warum diese völlig unbegründet ist.

Obwohl die Gesellschaft immer älter wird, werden Alte oft ausgeblendet, das eigene Älterwerden mit Hilfe kosmetischer Produkte und Operationen so lang wie möglich hinausgezögert, so Hadinger. Weil das auf Dauer nicht funktioniere, kommt als nächste Reaktion die Flucht: Viele rennen vor wichtigen Themen und Fragen davon, lenken sich mit einer Reise nach der anderen ab oder flüchten sich in Krankheiten, die sie gar nicht haben.

Irgendwann schließlich findet man sich mit dem Alter ab; im besten Fall wird es akzeptiert, im schlimmsten kommt die Resignation - wörtlich übersetzt: die Rücknahme seiner Unterschrift. So wie ein Maler oder Autor ein Werk resigniert, mit dem er nicht länger identifiziert werden will, so machen das manche mit ihrem Leben, betonte Hadinger.

Neue Freiheiten und viel Erfahrung

Dabei gäbe es doch gar keinen Grund, sich vor der „vierten Phase" - nach Kindheit, Jugend und Berufsleben - zu fürchten, ganz im Gegenteil: Erst im Alter ist der Mensch laut Hadinger völlig frei - er wird nicht mehr ständig benotet und bewertet, er muss niemandem mehr etwas beweisen, keine Karriere mehr machen. Es ist wieder Zeit für Entfaltung, das Lebenstempo kann selbst bestimmt werden.

Dazu kommt, Kompetenz und Erfahrung sind größer denn je. Hadinger vergleicht diese Lebensphase mit einer russischen Matroschka, die aus vielen, ineinander schachtelbaren Puppen besteht. Ganz ähnlich hätten auch Menschen über die Jahre eine Schicht nach der anderen aufgebaut und könnten im Alter schließlich das Gesamtbild mit dem nötigen Abstand betrachten, eventuell auch die eine oder andere Schale abwerfen. Rückblickend könne gesagt werden: „Nicht alles war gut, aber an den schwierigen Zeiten bin ich gewachsen."

Das Leben leichter machen

Für die nächsten 15 bis 20 Jahre sieht Hadinger die „Zeit der Patenschaften" gekommen. Weil die Jüngeren immer schneller im Hamsterrad laufen müssen, um im Berufsleben zu bestehen, müssten die Älteren den „Rennenden", den „bleichen Gesichtern in der U-Bahn" mit Rat und Tat beiseite stehen. „Das Wichtigste ist, dass die Menschen nicht nur für ihre Nächsten, für die Familie Verantwortung übernehmen, weil das tut man eh sowieso. Man muss auch bereit sein, etwas für andere tun - dadurch gestaltet sich auch das eigene Leben viel lebendiger und erfüllter", sagte Hadinger.

Am Ende ihrer einstündigen Rede bat Hadinger die langjährige Geriatrie-Chefärztin des Marienkrankenhauses Nassau (Rheinland-Pfalz) Irmgard Luthe zu Wort: „Ich habe von alten Menschen mehr gelernt als auf der Uni. Wir müssen wieder das Miteinander zwischen den Generationen entdecken und den Älteren höhere Wertschätzung entgegenbringen. Die besten Momente im Krankenhausalltag waren, wenn die Patienten laut über ihre Familie, ihr Leben nachgedacht haben. Dieses Leuchten in den Augen bei der Visite - das war das Schönste." Leistungsdenken und Profitgier in den Spitälern müsse wieder aufhören, die Medizin sollte wieder dem Menschen dienen.

Zurück zum Wesentlichen

Aber auch die Gesellschaft selbst hat ihren Beitrag zu leisten, so Luthe: „Wir müssen zum Wesentlichen zurückzukehren und einen anderen Zugang zum Sterben finden. Neuerlernt sein will auch das Zuhören. Wenn Ärzte nicht mehr mit Patienten reden, geht es nur noch um Technik - das kann es nicht sein. Als Ärztin will ich mir Zeit für meine Patienten nehmen, etwas über ihre Geschichte erfahren."

Weil das aufgrund zunehmender medizinischer Ökonomisierung nicht mehr möglich war und sie sich zuletzt als „Sklavin von Verwaltung und Geschäftsführung" fühlte, verließ Luthe nach 19 Jahren als Chefärztin das Krankenhaus und begann letztes Jahr, als freiberufliche Logotherapeutin zu arbeiten. Rückblickend war es für sie die richtige Entscheidung und „sehr heilsam".

Wirklich neue, praktisch umsetzbare Ansätze brachte der vom Viktor-Frankl-Institut veranstaltete Abend zwar nicht, er war aber ein bewegender Appell für das Zusammenleben zwischen Jung und Alt und eine Aufforderung, selbst dafür aktiv zu werden. Seine wichtigste Leistung aber war es, den eigenen Standpunkt zum Älterwerden zu überdenken - so schlimm ist es nämlich gar nicht. (Florian Bayer, derStandard.at, 15.10.2012)