
Moshe Ben-Gavriêl, etwa 1960 in Jerusalem: Er sprach fließend Arabisch und kleidete sich auch gern im arabischen Stil.
"Es geschehen so viele Dinge um uns herum, die einen Menschen wie mich, der von seinen Ideen besessen und verfolgt ist, verrückt machen können. (...) Die Araber sind verhältnismäßig ruhig, aber unsre Nazionisten, die Revisionisten, treiben Schweinereien sondergleichen. Mich drückt alles enorm nieder, sodass ich recht hoffnungslos in die Zukunft schaue."
Als der in Wien geborene jüdische Schriftsteller und Journalist Eugen Hoeflich im Dezember 1933 diese Sätze in sein Tagebuch schrieb, lebte er bereits seit sechs Jahren in Jerusalem und nannte sich Moshe Ya'akov Ben-Gavriêl. Mit Österreich und Europa überhaupt hatte er geistig abgeschlossen, erwartete nichts mehr von einer Kultur, in der er die Wurzeln aller verderblichen Ismen lokalisierte: vom Nationalismus, Antisemitismus und Imperialismus bis zum Kapitalismus.
Seine Hoffnung richtete sich auf eine besondere Form des Kulturzionismus, eine geistige Rückkehr der Juden zu ihren orientalisch-asiatischen Ursprüngen. Politischer Ausdruck dieser Hoffnung war die Errichtung eines binationalen Staates in Palästina, in dem Juden und Araber, ähnlich wie die Schweizer in Kantonen, friedlich zusammenleben. Eine Vision, deren Verwirklichung die bis heute andauernde Katastrophensituation im Nahen Osten hätte verhindern können.
Ben-Gavriêls Idee teilten selbst damals nur wenige. "Es war zwar nur eine Minderheit, doch es bildeten sich vor allem unter den vorwiegend jüdischen Intellektuellen etliche Gruppierungen, die zumindest in den 1920er- und -30er-Jahren für eine Verständigung und einen binationalen Staat eintraten", berichtet die Klagenfurter Historikerin Andrea Lauritsch. Im Zuge ihrer vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Edition der Tagebücher Moshe Ya'akov Ben-Gavriêls von 1933 bis 1945 setzt sich die Forscherin nicht nur mit der Biografie des einst sehr erfolgreichen Schriftstellers auseinander, sondern bringt anhand seiner persönlichen Aufzeichnungen auch höchst brisante zeit- und kulturhistorische Aspekte der Entstehung und Entwicklung des Staates Israel ans Licht.
Der erste Teil der Tagebücher von 1915 bis 1927 wurde übrigens schon 1999 vom dem 2003 verstorbenen Wissenschafter Armin A. Wallas bearbeitet und bei Böhlau veröffentlicht. Mit dem aktuellen Projekt will Andrea Lauritsch nun die Pionierarbeit ihres verstorbenen Kollegen und Lebensgefährten weiterführen.
Zwei Monate hat sie in diesem Sommer die Archive der Nationalbibliothek in Jerusalem durchforstet und neben den dort aufbewahrten Tagebüchern Ben-Gavriêls auch seine Zeitungsartikel und Sekundärliteratur zur Zeitgeschichte gesichtet. Zentrales Thema seiner persönlichen Aufzeichnungen ist die im Lauf der Jahre immer problematischer werdende Verständigung zwischen Juden und Arabern.
Ernüchternde Aussichten
"Es lässt sich eine wachsende Ernüchterung und sogar Resignation erkennen", sagt Lauritsch. "Er war der Überzeugung, dass die zunehmende Feindschaft zwischen den Kontrahenten von einem aggressiven Bandenwesen auch auf jüdischer Seite gefördert werde." Er prophezeite schon damals einen Teufelskreis von Racheakten, dessen Anfang nicht mehr zu eruieren und dessen Ende nicht absehbar sei.
Seinen politischen Pessimismus auszudrücken, erlaubte sich Ben-Gavriêl aber nur in den Tagebüchern - in seinen Artikeln bleibt er ungebrochen kämpferisch. So tritt er vehement gegen araberfeindliche revisionistische Zionisten wie Ze'ev Jabotinsky und seine Anhänger auf, die er als die "Braunhemden von Palästina" bezeichnet.
Ya'akov Ben-Gavriêls Vorstellung eines binationalen Staates beruhte auf zum Teil sehr pragmatischen Grundpfeilern, die in revisionistischen Kreisen bestenfalls belächelt wurden: Seine Überzeugung, dass die jüdischen Einwohner im Dienste eines friedlichen Zusammenlebens mit den " arabischen Brüdern" nicht nur die hebräische, sondern auch die arabische Sprache beherrschen müssten, fand allenfalls unter Intellektuellen Beachtung. Ben-Gavriêl selbst jedenfalls nahm diese Forderung ernst - er sprach fließend Arabisch und kleidete sich auch gern im arabischen Stil. Eine Gewohnheit, die ihm am Strand von Tel Aviv einmal zum Verhängnis wurde, als ihn eine Gruppe rechtsgerichteter Juden brutal zusammenschlug.
Friedenskämpfer und Soldat
Durch seine Arabischkenntnisse und seine guten Kontakte zu allen Bewohnern Palästinas konnte er die politischen Entwicklungen auf beiden Seiten genau beobachten und in seinen Artikeln darüber berichten. Die wachsende Feindschaft zwischen Juden und Arabern veranlasste ihn noch vor Kriegsbeginn dazu, der paramilitärischen Haganah beizutreten.
Ein harscher Widerspruch zu seinen Ideen und Hoffnungen, der sich bis zu seinem Tod 1965 durch seine Biografie zieht: "Die Engländer, deren unentschiedene Politik als Mandatsmacht er oftmals kritisiert hat, boten der jüdischen Minderheit wenig Schutz, sodass auch Ben-Gavriêl sich Selbstschutzgruppen anschloss. Der den Frieden vehement propagierende ehemalige k. u. k. Offizier nahm dann noch notgedrungen an drei weiteren Kriegen teil: Als Soldat im Weltkrieg in der Jewish Brigade, im Unabhängigkeitskrieg 1948 und noch 1956", berichtet Andrea Lauritsch über die lebenslange Zerrissenheit des Publizisten zwischen ideologischem Anspruch und Pragmatismus.
Etliche Tagebucheintragungen zwischen 1933 und 1945 kreisen um Ben-Gavriêls prekäre Einkommenssituation. Wurden doch ab 1933 viele deutschsprachige Zeitungen eingestellt, für die er als Korrespondent arbeitete. Erst ab den 1950er-Jahren war die Existenzsicherung für ihn kein Thema mehr: "Zu dieser Zeit war er", sagt Lauritsch, "ein äußerst erfolgreicher Schriftsteller, der in Deutschland bekannter war als Ephraim Kishon." In vielen israelischen Anthologien wurde er trotzdem totgeschwiegen, weil er als einer der ersten bereits Anfang der 50er-Jahre eine Verständigung mit Deutschland gesucht hat. Auch damit erwies sich Eugen Hoeflich alias Moshe Ya'akov Ben-Gavriêl wieder einmal als visionärer Einzelkämpfer, der seiner Zeit voraus war. (Doris Griesser/DER STANDARD, 17. 10. 2012)