Von am Rande des Gesundheitswesens stehenden Forschern, Bürokraten und Politikern wird der Begriff "ärztliche Kunst" zunehmend angegriffen oder sogar ins Lächerliche gezogen. Speziell manche Zahlengurus in den Bereichen Public Health, Health-Technology-Assessment oder verwandten patientenfernen Disziplinen sehen sich als Vertreter einer reinen Wissenschaft, die alles weiß, jedes Problem löst, makellos objektiv ist und der Irrtümer fremd sind.

Der Begriff "ärztliche Kunst" wird von ihnen als reaktionäre Dummheit einer überheblichen, rückständigen, gierigen und Transparenz fürchtenden Ärzteschaft gesehen. Ist das so?

Unschärfeprobleme und Auswertungsfragen

Es ist zwar richtig, dass zu allen Zeiten ärztliche Fehler passiert sind und auch weiterhin passieren werden. Aber auch die Wissenschaftsgeschichte ist voll von Irrtümern, unabhängig vom Fach, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Fehlerhafte Wissenschaft hat in der Vergangenheit systematische ärztliche Fehlbehandlungen mit teils fatalen Folgen (zum Beispiel Contergan) verursacht, sogar Nobelpreise wurden schon für wissenschaftliche Irrtümer vergeben. Empirische medizinische Wissenschaften können maximal so gut sein wie die Daten, auf denen sie beruhen.

Jeder habilitierte Mediziner kennt aber auch die Probleme an Unschärfe, Selektionsbias und Methodik alleine schon bei der "simplen" Erhebung von Daten, geschweige denn bei Auswertung und Interpretation.

Komplexes Wesen Mensch

Woher kommt eigentlich der Anschub für die wissenschaftliche Medizin? Es sind die tägliche Konfrontation mit Patientenproblemen und die auf Logik, Erfahrung und Intuition gestützten Lösungsansätze, welche die Grundlagen für jene Fragestellungen liefern, deren systematische Erforschung die moderne Medizin erst zu dem gemacht haben, was sie heute ist, und die zu ihrer rasanten Weiterentwicklung beitragen.

Diese Studien versuchen in der Regel lediglich im Nachhinein zu verifizieren, was ärztliche Intelligenz längst gewusst oder zumindest vermutet hat. Die ärztliche Intelligenz schöpft also aus ihrer täglichen Erfahrung am Krankenbett jene Thesen, die letztlich Voraussetzung für die klinische Forschung sind.

Auch die moderne klinische Medizin kann nicht auf randomisierte Studien reduziert werden, da diese bei weitem nicht ausreichen. Der Mensch ist das komplexeste Wesen der Natur und verfügt über wesentliche, vielfach unbewusste Fähigkeiten der Beobachtung, Analyse und Entscheidung, die vor allem in Situationen sachlicher Unschärfe, Mehrdeutigkeit und Komplexität am individuellen Patienten häufig erfolgsentscheidend sind. Was wissenschaftlich "Tacit Knowledge" oder auch "implizites Wissen" genannt wird, löst im ärztlichen Handeln täglich sehr viele Probleme, liefert schnell korrekte Diagnosen, vermeidet Fehlbehandlungen und unnötige Untersuchungen und erspart menschliches Leid und letzten Endes auch Unmengen an Geld.

Das implizite Wissen ist die entscheidende Ergänzung des "expliziten", also erlernten rationalen Wissens. Auch die oft geschmähte, weil angeblich unwissenschaftliche Intuition ist längst ein wissenschaftliches Faktum, auch wenn dies gerne ignoriert wird.

Wissenschaft ist nur eine von fünf Säulen

Würden Ärzte alles ausklammern, wofür es keine wissenschaftliche Evidenz - also keine prospektiven randomisierten klinischen Studien gibt -, dann wären wir heute medizinisch immer noch in der sprichwörtlichen Steinzeithöhle oder würden täglich Millionen von Patienten wort- und ratlos wegschicken. Die Wissenschaft ist nämlich nur eine von fünf Säulen der medizinischen Kunst, die, frei nach Wikipedia, auch die Begriffe Wissen, Fertigkeiten, Wahrnehmung, Vorstellung und Intuition mit einschließt und die ich noch durch Empathie ergänzen würde. Dieser Kunstbegriff beschreibt das notwendige Rüstzeug des Arztes also perfekt.

Warum versagt die Wissenschaft am Patientenbett so oft? Der Mensch ist eine unglaublich komplexe Biomaschine, die ihre Funktionszustände ständig ändert und zusätzlich in einem überaus komplexen psychosozialen Umfeld lebt - damit unterliegt der Mensch einer Vielzahl von Einflüssen.

Eingeschränkter Blick auf eine typische Situation unter typische Bedingungen

Klassische klinische Studien versuchen mit diesem Faktum umzugehen, indem sie selektionieren, ausblenden und vereinfachen. Die empirische Wissenschaft liefert somit immer nur einen deutlich eingeschränkten Blick auf eine typische Situation unter typische Bedingungen; sie gilt, wenn überhaupt, nur für das statistische Mittel und kaum jemals uneingeschränkt für das Individuum. Ärzte behandeln aber ausschließlich Individuen in häufig atypischen Situationen!

Genau deshalb können zum Beispiel unter Studienbedingungen beobachtete Medikamentenwirkungen unter klinischen Normalbedingungen oft nur bedingt oder gar nicht gesehen werden, denn die klinische Wirklichkeit weicht häufig wesentlich von den Studienbedingungen ab. Auch Metastudien mit einer großen Anzahl von Patienten helfen zwar der Statistik, schützen aber genauso wenig vor Fehlinterpretation und Irrtum.

Zuletzt muss noch ein bewusster oder unbewusster menschlich bedingter Bias Erwähnung finden: Gerade hinter Health-Technology-Assessment (HTA) können sich massive finanzielle oder politische Interessen verbergen, denn es existiert ein lukrativer Markt. Institutionen, die für staatliche oder private Auftraggeber arbeiten, Sponsoren befriedigen müssen und von Aufträgen leben, sind grundsätzlich gefährdet, die Ergebnisse im Sinne ihres Auftraggebers zu schönen. Gerade der Sparpolitik der letzten Jahre kämen zum Beispiel gehäuft negative Beurteilungen teurer Medikamente oder neuer medizinischer Methoden überaus gelegen. Mit solchen Beurteilungen ist außerdem - anders als in der Medizin - keinerlei Verantwortung oder Haftung verbunden. Diese Wissenschaft muss keine Konsequenzen fürchten, auch dann nicht, wenn durch ihre Fehler indirekt Patienten zu Schaden kommen, weil die fachlich ahnungslose, schlecht beratene Politik falsch entscheidet.

Die empirische Wissenschaft ist heute zweifellos das wichtigste Hilfsmittel des Arztes, obwohl auch sie irren und fehlerhaft sein kann. Sie zur Religion zu erheben wäre aber genauso falsch, wie den Begriff ärztliche Kunst in Bausch und Bogen zu verdammen. Menschliche Reaktionsmuster, die menschliche Psyche und das soziale Umfeld einfach auszublenden, weil sie nicht messbar und daher unwissenschaftlich sind, wäre unmenschlich, dumm und auch noch sehr teuer. Die Entscheidungen am Patientenbett müssen jenen überlassen bleiben, die dafür ausgebildet sind und persönlich und ungeteilt die Verantwortung für die Behandlung des kranken Menschen übernehmen. Sie sind es auch, auf die politische Entscheidungsträger hören sollten.

Denn auch diese Entscheidungsträger, wenn sie selbst betroffen sind, wissen plötzlich, wo die Kompetenz in Gesundheitsfragen zu finden ist, nämlich beim Arzt. (Robert Hawliczek, derStandard.at, 19.10.2012)