Die Metaller haben den Startschuss für die Kollektivvertragsverhandlungen gegeben, die Inflationsrate liegt auf einem Acht-Monats-Hoch. Abgelten könne man diese Teuerung in der Lohnbildung aber nicht eins zu eins, sagt der Ökonom Ulrich Schuh. Hohe Lohnabschlüsse würden außerdem ohnehin von der Inflation aufgefressen.
Als positives Beispiel sieht Schuh Deutschland. Niedrigere Lohnabschlüsse hätten dem Land wirtschaftlich wieder auf die Beine geholfen. Und auch für die Europäische Zentralbank (EZB) müsste eine solch hohe Inflationsrate ein Hinweis darauf sein, dass es möglicherweise bald nötig wird, die Preisstabilität wiederherzustellen.
derStandard.at: Die Inflation ist
stark gestiegen. Auch die
Kollektivvertragsverhandlungen laufen. Sie haben die Benya-Formel als nicht
mehr zeitgemäß bezeichnet. Wie
würden Sie die Teuerung feststellen und abgelten, wenn nicht mit dieser Formel?
Schuh: Der Hintergrund ist, dass wir Preissteigerungen haben, die teilweise dadurch bedingt sind, dass wir höhere Importpreise haben. Wir sehen auch jetzt bei den steigenden Spritpreisen, dass durch die Verteuerung bei Erdöl und Energie die Teuerung nach oben geht. Und alles, was wir jetzt importieren, kann man im Grunde über höhere Lohnsteigerungen nicht wirklich abgelten. Sonst ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sich das automatisch wieder in die Preise weiterwälzt und die Inflation in dem Maße steigt, in dem wir die Löhne erhöhen, und real für die Betroffenen nicht viel mehr herausschaut.
Insofern wäre die Überlegung, bei den Lohnabschlüssen diese aus dem Ausland kommenden Kostensteigerungen nicht automatisch abzugelten. Die Benya-Formel sieht vor, Kaufkraftverlust plus Produktivitätswachstum abzugelten. Kaufkraftverlust kann aber bei extern verursachten Preissteigerungen realistischerweise nicht eins zu eins abgegolten werden.
derStandard.at: Aber real ist er ja da.
Schuh: Aber die Erkenntnis bei den Lohnverhandlungen in Österreich ist - und da ist viel Weisheit dahinter -, dass es mehr oder minder Selbstbetrug ist, wenn wir den Arbeitnehmerinnen hohe Lohnabschlüsse geben und im nächsten Schritt gleich die Preise im selben Maß ansteigen. Da bleibt für die Beschäftigten real nicht viel mehr übrig. In den vergangenen Jahren haben wird das immer wieder gesehen: Scheinbar gute Lohnabschlüsse wurden von der Inflation wieder aufgefressen. Insofern geht es um ein Lohnbildungssystem, das einerseits Preisstabilität und andererseits ein entsprechendes Lohnwachstum sicherstellt.
derStandard.at: Bei Ihrer Berechnung wäre die Inflationsrate dann also geringer.
Schuh: Man müsste genau jenen Teil herausnehmen, der durch externe Faktoren ausgelöst ist, mit dem Ziel, dann auch den künftigen Preisauftrieb möglichst gering zu lassen. So ginge für die Beschäftigten nichts verloren, weil dann auch die Preise geringer ausfallen.
derStandard.at: Um wie viel ginge die Inflationsrate Ihrer Schätzung zufolge nach unten?
Schuh: Das kommt auch darauf an, wie der Einfluss der externen Effekte ist, aber es wird sicherlich im Bereich von rund einem halben Prozent der Inflationsrate liegen. Dann wären wir etwa bei 2,2 Prozent.
derStandard.at: Da ginge es also um Energie und Erdöl?
Schuh: Genau. Wenn Rohstoffe aus dem Ausland bezogen werden und Preissteigerungen stattfinden, müsste man das bei der Lohnbildung entsprechend einbinden, weil es ja ein nicht inländisch verursachter Preisauftrieb ist.
derStandard.at: Wäre es bei Kollektivvertragsverhandlungen nicht dennoch so, dass Arbeitgeber besser aussteigen als die Arbeitnehmer?
Schuh: Im Grunde sitzen alle in einem Boot. Es geht darum, dass die Beschäftigten und die Unternehmer daran interessiert sein müssen, dass die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen sichergestellt ist, und auch, dass die Kaufkraft in Österreich nicht dahin ist. Wenn höhere Lohnsteigerungen zu höherem Preisauftrieb führen, ist das einerseits für die Lohneinkommensbezieherinnen nachteilig und auch für die österreichischen Betriebe, deren Produkte dann international teurer und daher nicht mehr wettbewerbsfähig sind.
Diese Idee steckt ja auch hinter der Benya-Formel: Wir sollten im Grunde schauen, dass wir das, was zum Verteilen da ist, entsprechend aufteilen zwischen Beschäftigten und den Gewinnen der Unternehmen. Prinzipiell ist es so, dass dieser Kuchen, der zu verteilen ist, von den Zutaten bei der Zubereitung abhängt, was wir als Kosten abschreiben müssen. Bei diesen Zutaten für diesen Kuchen sind eben die aus dem Ausland importierten Energie- und Rohstoffpreise drinnen, und wenn die übermäßig stark steigen, muss man das berücksichtigen. Schlussendlich muss es nämlich bezahlt werden: entweder über höhere Inflation oder über niedrigere Einkommen und niedrigere Gewinne.
derStandard.at: Und durch eine andere Berechnung könnten sowohl Kaufkraft als auch Wettbewerbsfähigkeit gestärkt werden?
Schuh: Wir haben die sehr unangenehme Situation, dass die "Lebenshaltungskosten" der Volkswirtschaft steigen. Wenn bei Ihnen der Strom teurer oder die Miete erhöht wird, ist es für Sie unangenehm. So ist es auch für die österreichische Volkswirtschaft unangenehm, wenn das, was wir zum täglichen Betrieb brauchen, teurer wird. Wir müssen schauen, wie wir mit diesem Umstand am besten umgehen. In der Vergangenheit hatten wir eine recht angenehme Situation, eine gewisse Globalisierungsdividende.
Wir haben Energie und Rohstoffe über Jahrzehnte hinweg zu sehr, sehr günstigen, zum Teil sogar fallenden Kosten bezogen. Das hat den Wohlstandszuwachs erleichtert. Jetzt ist es so, dass wir uns darauf einstellen müssen, dass wir mit einem steigenden Trend bei den Energiekosten rechnen müssen und dass Österreich gerade diese Rohstoffe aus dem Ausland importieren muss. Das kostet uns schlussendlich etwas, sowohl die Unternehmen als auch die Beschäftigten.
Eine Variante wäre, die Kosten auf die Preise weiterzuwälzen, dann werden diese Kosten über die höheren Preise bezahlt. Die zweite Variante würde bedeuten, die höheren Kosten bei den Lohnverhandlungen zu berücksichtigen. Dann werden entsprechend auch die Einkommen und die Gewinne geringer sein. Gezahlt werden muss diese Rechnung aber, da führt kein Weg daran vorbei.
derStandard.at: Das heißt, man muss in Kauf nehmen, dass sowohl die Kaufkraft als auch die Wettbewerbsfähigkeit abnehmen?
Schuh: Wenn man es geschickt macht, wird es so sein, dass wir schauen, dass wir eine möglichst hohe Beschäftigung, eine möglichst hohe Lohnsumme haben, und das kann eben nur über Wettbewerbsfähigkeit gelingen. Auch das entspricht der österreichischen Tradition, dass wir nüchtern analysieren: Was können wir verteilen? Wie können wir möglichst viele Menschen in Beschäftigung bringen? So sollten wir es auch in Zukunft machen. Wir haben aber andere Rahmenbedingungen als in der Vergangenheit.
derStandard.at: Ihnen ist es also lieber, dass die Kaufkraft verliert als die Wettbewerbsfähigkeit?
Schuh: Die reale Kaufkraft soll nicht beeinträchtigt werden, und die Wettbewerbsfähigkeit sollte im Vordergrund stehen. Im österreichischen Lohnbildungssystem stand das immer im Vordergrund, weil Österreich eine kleine, offene Volkswirtschaft ist. Insbesondere nimmt man daher Rücksicht auf die Wettbewerbsfähigkeit, weil sich die österreichischen Unternehmen ja ohnehin auf den europäischen und internationalen Märkten bewähren müssen.
Bei der Beurteilung der Wettbewerbsfähigkeit sind gewisse Variablen herangezogen worden, das waren etwa die Produktivitätsentwicklung und natürlich auch die Inflationsentwicklung. Dieses Vorgehen hat sich auch als erfolgreich erwiesen. Österreich hat ausgezeichnete Beschäftigungszahlen. Dieses bewährte System sollte man prinzipiell fortführen, und berücksichtigen, dass wir geänderte Rahmenbedingungen im internationalen Bereich haben, die wir einbauen müssen in die Lohnbindung.
derStandard.at: Sie sprechen auch von einem Inflationsdifferential im Euroraum, bei dem zum Beispiel Deutschland besser aussteigt als Österreich. Was macht Deutschland da anders?
Schuh: Deutschland hatte mit der Wiedervereinigung eine doch erhebliche Bürde zu tragen und hatte auch bei der Festlegung des Wechselkurses beim Euro eine relativ ungünstige Wettbewerbssituation. Das hat zu hoher Arbeitslosigkeit geführt, und man hat in Deutschland dann auch mit sehr zurückhaltenden Lohnabschlüssen diese Wettbewerbsfähigkeit wieder erlangt.
Deutschland ist derzeit wieder führend, was die internationale Wettbewerbsposition betrifft, das sieht man an den entsprechenden Exportzahlen. Die deutsche Wirtschaft entwickelt sich gut. Auch auf dem Arbeitsmarkt jagt ein Rekord den anderen, die Arbeitslosenquote sinkt trotz der schwachen internationalen Nachfrage. Das ist das Resultat einer Lohnpolitik, die darauf abzielt, Beschäftigung und Einkommen zu maximieren. Da ist nicht unbedingt ein hoher Lohnabschluss die optimale Variante.
Oft ist es so, dass ein moderater Lohnabschluss über eine entsprechend hohe Beschäftigung den Kuchen für alle Beteiligten entsprechend vergrößert. Das ist den Deutschen in den letzten Jahren sehr erfolgreich gelungen. Die Lohnabschlüsse waren auch ein schönes Stück unter dem, was wir in Österreich gesehen haben. Österreich hat den Vorteil, dass wir diesen Korrekturbedarf nicht gehabt haben, aber wir hängen mit dran, weil viele österreichische Unternehmen nach Deutschland zuliefern, und die müssen schon schauen, ob sie mit der dortigen Entwicklung Schritt halten können.
derStandard.at: Aber Energie muss Deutschland ja auch zu großen Teilen importieren.
Schuh: Ja, das Problem ist kein österreichisches.
derStandard.at: Werden diese Preise in Deutschland nicht eingerechnet oder ist die Situation dort an sich besser?
Schuh: Wie die Lohnabschlüsse in den verschiedenen Ländern zustande kommen, ist unterschiedlich. Im Prinzip ist es natürlich immer so, dass man schaut, wie überhaupt die Ertragslage der Unternehmen aussieht. In manchen Ländern gibt es sektorale Verhandlungen, in anderen Verhandlungen auf Betriebsebene, in wieder anderen zentrale.
In Österreich haben wir mehr oder minder einen Sektor, der das Signal gibt, und alle anderen ziehen dann entsprechend nach. Damit besteht auch ein hohes Maß an Abstimmung zwischen den einzelnen Sektoren der österreichischen Wirtschaft. Das gibt es praktisch in keinem anderen Land. Diese Benya-Formel ist ja auch nur ein Beispiel dafür, dass man sich entsprechend orientiert. Jedes Modell muss aber immer wieder ein bisschen modifiziert werden, damit es auch zukunftstauglich ist.
derStandard.at: Erwarten Sie, dass auch der Beschluss der EZB, unbegrenzt Anleihen zu kaufen, Auswirkungen auf die Teuerungsraten haben wird?
Schuh: Es geht weniger um die Entscheidung, Anleihen zu kaufen, als um die Frage, welche Bedeutung die Preisstabilität generell für die Europäische Zentralbank hat. Die letzten Monate waren von einer extrem hohen Verunsicherung auf den Märkten geprägt, zu deren Beruhigung die Zentralbank entsprechend beitragen wollte. Gleichzeitig hat man auch den Leitzinssatz - nur um die Konjunktur zu unterstützten - auf niedrigem Niveau belassen. Allerdings muss man nüchtern festhalten, dass wir inzwischen schon sehr hohe Inflationsraten haben bei einer sehr ungünstigen Konjunkturlage.
Das sollte im Grunde schon die Zentralbank dafür sensibilisieren, dass hier möglicherweise sehr bald Handlungsbedarf besteht, die Preisstabilität wiederherzustellen, und da ist sie natürlich in einer sehr verzwickten Lage. Einerseits möchte sie die Wirtschaft unterstützen, gleichzeitig gerät aber die Preisstabilität langsam ins Wanken. Was Anleihenkäufe betrifft, ist irgendwann der Punkt erreicht, dass die Zentralbank nicht mehr zurückkann. Dann wird es überhaupt unangenehm, daran möchte ich nicht denken. Wir sind sicher in einer Phase, die zunehmend kritisch wird. (Elisabeth Parteli, derStandard.at, 18.10.2012)