Berlin - Hochgradig illegal und dennoch im Netz zu finden: Wer sich auf Youtube durchklickt, findet schnell Videos aus Berlin, in denen vermummte Gestalten Züge und Häuserwände besprühen. Zum Beispiel die legendäre Graffiti-Crew 1UP (One United Power), die ganze Züge blitzschnell "bemalt" - und zwar am helllichten Tag mitten auf der U-Bahn-Station. Die Geburtsstunde von Graffiti war in der Bronx während der späten Sechziger, doch längst gilt Berlin als weltweites Mekka für Sprayer und Street-Art-Künstler. Nach all der Recherche vom Wiener Schreibtisch aus möchte ich das Phänomen endlich einmal hautnah miterleben.
Standortwechsel, Alexanderplatz mitten im Herzen der deutschen Hauptstadt. Geschäftig geht es hier zu: Dort hält ein frustrierter Wähler eine Rede gegen den amtierenden Bürgermeister Klaus Wowereit, einige Schritte weiter sitzen Punks auf einem kleinen Flecken Wiese inmitten des Betondschungels und unterhalten sich lautstark. Wie ausgemacht, warte ich am Treffpunkt auf unseren Tour-Guide, der mir einen Einblick in die Berliner Subkulturen verspricht. alternative berlin tours nennt sich der Stadtrundgang treffend: Statt Brandenburger Tor und Potsdamer Platz sollen die Besucher neben der Besichtigung von Street-Art und Graffiti-Kunst den Charme der Berliner Szene-Kieze erleben.
Kunst oder Vandalismus?
Langsam wächst die Gruppe an internationalen Gästen, die schon ungeduldig auf den Beginn der Tour warten. Dann schnellt auch schon unser Guide um die Ecke: Penny aus Schottland, die seit einigen Jahren bereits in Berlin lebt und die alternative und linke Szene hier wie ihre Westentasche kennt. Gegen ein Trinkgeld bietet sie eine Führung an, nach der man die Stadt ganz anders wahrnimmt. Doch alles der Reihe nach.
Erst einmal geht's mit der U-Bahn in einen anderen berüchtigten Kiez, nämlich nach Kreuzberg. Apropos U-Bahn: Im Jahr 2010 bezifferte die Berliner Verkehrsgesellschaft BVG den durch Graffiti und Vandalismus entstandenen Schaden mit 6,4 Millionen Euro. Zwischen Kunst und Vandalismus machen die Verkehrsbetriebe keinen Unterschied. Die sonnengelben Züge sieht man nur selten mit einem aufgesprühten Schriftzug, die meisten Werke der unerwünschten Künstler werden sofort entfernt. Durch die Eile und das konsequente "Buffen", also Säubern der Züge, erklärt sich auch die hohe Geldsumme, die Jahr für Jahr für die Entfernung der Graffiti ausgegeben wird.
In Kreuzberg angekommen, brauche ich erst einige Minuten, um mich dem Rhythmus des Viertels anzupassen. Die Eindrücke sind an Vielfältigkeit kaum zu übertreffen: Alle paar Meter ein Imbissstand, hippes Kleidungsgeschäft, besetztes Haus oder Hinterhof-Café. Menschen aus den verschiedensten Kulturen treffen hier aufeinander. Besonders für Kreative bietet das Viertel aufgrund der niedrigen Mieten und des internationalen Austauschs einen ausgezeichneten Nährboden. Die Kreativität schlägt sich auch in den bunten Wänden des Viertels nieder.
Nulltoleranzstrategie
Doch wie kann man Graffiti von Street-Art unterscheiden? Penny weiß Rat: Während Street-Art-Motive dem Betrachter meist eine Botschaft vermitteln, sind die "Pieces" der Sprayer Schriftzüge an ungewöhnlichen Plätzen wie Dachvorsprüngen oder eben U-Bahnen. Diese dienen dem "Fame", also Ruhm innerhalb der Szene, Außenstehende können mit den Buchstabenkombinationen und der Graffiti-Ästhetik hingegen meist wenig anfangen. Auch über die sogenannten "Tags", also mit Filzstiften geschriebenen Namenszüge, werden wir aufgeklärt: "Die meisten Künstler der Graffiti-Szene haben einmal damit angefangen."
Plötzlich gehe ich mit ganz anderen Augen durch die Straßen. Hinter jeder Ecke verbergen sich neue Botschaften der Künstler, die eine ganze Stadt als Projektionsfläche nutzen. Unser Guide erzählt auch von dem Video, das im Internet kursiert und ich aus Wien bereits kannte: "Die Crew One United Power aus Kreuzberg fand durch die Analyse von Polizeiberichten heraus, dass die Polizei mindestens dreieinhalb Minuten zu einer Einsatzstelle braucht - und so übten sie, einen ganzen Wagon in nur einer Minute zu besprühen."
Knapp drei Stunden lang bekamen wir Plätze zu Gesicht, vor denen sich Otto Normaltourist eher verstecken würde. Die Metropole macht aus Graffiti aber auch eine "alternative" Touristenattraktion, was im krassen Gegensatz zur Nulltoleranzstrategie der Berliner Polizei steht, die Graffiti-Künstler sogar mit einer eigenen Soko bekämpft. Aber wie steht es so schön auf einer Hauswand in Berlin geschrieben? "Es wird immer Menschen geben, die die Stadt bunter machen." (David Tiefenthaler, DER STANDARD, 17.10.2012)