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Das Parlament in Ankara und Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan.

Foto: EPA/EVRIM AYDIN/ANADOLU AGENCY

Heute wollen wir doch noch einmal einen Blick auf den jüngsten Bericht der EU-Kommission zum Fortschritt beim Beitrittsprozess der Türkei werfen. Egemen Bagış, der Europaminister, hat schon wissen lassen, dass der Bericht der Brüsseler Kommission gemein und unfair sei und dass ihm der nun kommende Bericht des Europaparlaments also auch recht wurscht ist. Wirtschaftsminister Zafer Caglayan hat nicht mehr an sich halten können, als er die Nachricht vom Friedensnobelpreis für die EU erfuhr: Die als „am heuchlerischsten empfundene Organisation“  auf diesem Erdenrund, nannte er sie. „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und „Folter“ begehe die Union mit ihrer diskriminierenden Visapolitik, wo Türken sich anstellen müssen und Brasilianer oder Ukrainer einfach einreisen können. Brasilianer! Ukrainer!

Gemessen an der Rhetorik türkischer Regierungspolitiker liegt der Beitrittsprozess heute irgendwo zwischen mausetot und das Bankl gerissen. Für die Kommission in Brüssel aber liegt die Betonung bei „Prozess“: Es gibt bei den 33 Sachgebieten für den EU-Beitritt und bei den allgemeinen Bewertungen insgesamt stets kleine oder keine Fortschritte, oft nur halbe Reformen und – mit gewichtigen Ausnahmen – kaum wirkliche Rückschritte oder Fehlentwicklungen. Der Beitritt der Türkei geht im Prinzip also vorwärts und trotz der von der Türkei verursachten Blockade durch die Nicht-Erfüllung des Ankara-Protokolls. Auch das Geld aus Brüssel fließt weiter. 856 Millionen Euro an „Beitrittshilfe“ sind für dieses Jahr eingeplant, 782 Millionen waren es im vergangenen Jahr; ein Teil dieses Geld geht wieder an Unternehmen in der EU zurück, die sich an solchermaßen geförderten Wirtschaftsprojekten in der Türkei mit türkischen Geschäftspartnern beteiligen.

Die beiden letzten Türkeiberichte der Kommission entstanden unter dem Eindruck großer politischer Polarisierung im Land. Der 2011-Bericht folgte auf das Referendum zur Verfassungsänderung in der Türkei, als sich eine große Mehrheit der Wähler - über das Regierungslager hinaus – für weitere Reformen an der Junta-Verfassung von 1982 aussprach. Die Opposition stellte sich – zum Teil wider besseren Wissens – dagegen und argumentierte vor allem, die regierende AKP werde nun auch die Justiz übernehmen; die EU-Kommission war nicht dieser Ansicht. Der Bericht 2012 kam im Gefolge der Parlamentswahlen 2011, als das Parlament praktisch von April bis Anfang Oktober nicht tagte und der Gesetzgebungsprozess im Berichtsjahr entsprechend hastig wieder startete und das wichtigste politische Projekt – die Neuschreibung einer Verfassung – dem Streit der Parteien zum Opfer fiel.

2011 lag der vielleicht wichtigste Kritikpunkt bei der Einschränkung der Pressefreiheit:

„the high number of violations of freedom of expression raises serious concerns. Freedom of the media was restricted in practice. The imprisonment of journalists, and the confiscation of an unpublished manuscript in connection with the Ergenekon investigation, fuelled these concerns. A large number of journalists remain in detention.“

2012 ist die grundsätzliche Kritik an der Schwäche des türkischen Parlamentarismus auffällig. „Institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung“ ist aber eines der Kopenhagener Kriterien für die Aufnahme neuer Mitglieder in die Union. Im jüngsten Türkeibericht steht nun:

„The parliament’s role in addressing key policy challenges continues to be limited. Further efforts are needed to achieve systematic consultation with civil society and other stakeholders throughout the process. … proper functioning of the parliament, including the parliamentary committees, based on dialogue among all parties, has yet to be ensured.

… Insufficient preparation and consultation prior to the adoption of key legislation triggered strong criticism. This included the new education law, a law on caesarean section deliveries, a law granting immunity from judicial scrutiny to intelligence officers and public officials assigned specific tasks by the Prime Minister and the abolition of the Serious Crimes Courts.“

Das politische Gemurkse der türkischen Exekutive in den vergangenen Tagen relativiert diese Einschätzung ein wenig. Am Freitagnachmittag vergangener Woche wollte Regierungschef Tayyip Erdogan noch schnell den Termin für die Kommunalwahlen in der Türkei vorziehen von März 2014 auf Oktober 2013. Das war sein Kalkül, um im Sommer 2014, wenn er sich vom Volk zum Präsidenten wählen lassen will, schon einmal das politische Feld geordnet zu haben. Für die Verschiebung des Wahltermins war eine Verfassungsänderung notwendig - die nötigen 367 Stimmen verpasste Erdogans AKP aber. Das Parlament erwies sich weniger biegsam, als es sich der Regierungschef dachte. (Markus Bey, derStandard.at, 17.10.2012)