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Jörg Kachelmann und seine Frau Miriam sehen sich nach seinem Freispruch im Vergewaltigungsprozess als Opfer der Frauen. Die Realität ist kaum zu beurteilen - in jede Richtung.

Foto: EPA/BORIS ROESSLER

Wien - In einer perfekten Welt gäbe es ein Opfer, einen Täter, Beweise und Zeugenaussagen, die das belegen und schließlich ein Urteil. Die Realität ist eine andere. Und in kaum einem Bereich so problematisch wie bei Sexual- oder Gewaltdelikten.

Die derzeitige Debatte rund um das Buch des Ehepaars Jörg und Miriam Kachelmann zeigt dieses Problem auf. Kachelmann, der rechtskräftig vom Vorwurf der Vergewaltigung freigesprochen wurde, sieht sich nicht als Einzelopfer falscher Anschuldigungen. Als Mann könne man sich aber vor Gericht kaum wehren, wenn Aussage gegen Aussage steht.

Ob Frauen böse und Männer arm sind oder umgekehrt, entscheiden Polizei, Staatsanwaltschaft und letzten Endes Richterinnen und Richter. Doch wie diese Entscheidungen zu bewerten sind, ist immer wieder umstritten.

Zweifel an der Glaubwürdigkeit

Ein Beispiel aus dem Wiener Landesgericht. Der 36-jährige Walter L. sitzt wegen "fortgesetzter Gewaltausübung" vor Richterin Stephanie Öner. Der Mann soll seine damals 20-jährige Freundin ein halbes Jahr lang regelmäßig beschimpft und körperlich misshandelt haben. Das sagen die junge Frau, ihre Mutter und ihr Stiefvater, mit denen der Angeklagte in einer Wohnung gelebt hat.

L. erzählt anderes: Als er Nicole D. kennengelernt habe, sei sie immer wieder von daheim ausgerissen und habe psychische Probleme gehabt - ihre Mutter habe ihn gebeten, in den Haushalt zu ziehen, da er positiv auf ihre Tochter wirke. Im August 2011 habe sich die Beziehung verschlechtert - D. sei aggressiv geworden, habe ihn immer wieder attackiert. Nur einmal habe er sich gewehrt, dabei sei ihre Lippe aufgeplatzt.

Am Ende verurteilt Richterin Öner ihn - nicht rechtskräftig - nur deshalb wegen Körperverletzung zu fünf Monaten bedingt. Vom Vorwurf der fortgesetzten Gewaltausübung spricht sie ihn im Zweifel frei. Der Grund: Die Zeugen seien unglaubwürdig. So berichten die Eltern von einem massiven Angriff, den es laut Nicole D. gar nicht gab. Das angeblich gute Verhältnis von Mutter und Tochter scheint äußerst zweifelhaft. Und die Frage, warum der angebliche Gewalttäter nicht einfach aus der Wohnung geschmissen wurde, bleibt ebenso offen wie jene, warum nie ein Arzt aufgesucht wurde.

16 Prozent Verurteilungen

Ein Einzelfall? Zahlen gibt es, aber die sind mit Vorsicht zu genießen. Eine europaweite Studie zum Thema Vergewaltigung kam 2009 zum Schluss, dass in Wien nur vier Prozent der Anschuldigungen absichtlich falsch sind. Im Zehn-Jahres-Vergleich liegt das Verhältnis zwischen Anzeigen bei der Polizei und gerichtlichen Verurteilungen allerdings nur bei 16 Prozent.

Ein klares Bild ergibt das dennoch nicht. Einerseits stellen sich manche Anschuldigungen schon bei der Polizei als eindeutig falsch heraus und kommen gar nicht in die Statistik - Beamte in Wien schätzen nach ihren Erfahrungswerten die Quote auf zehn Prozent. Über den großen Rest sagt die Statistik weniger aus. Denn Beweismangel kann sowohl bedeuten, dass die Anschuldigung tendenziell unglaubwürdig ist, als auch, dass eben der entscheidende Beweis fehlt. Und im Zweifel wird dann für den Angeklagten entschieden - im Gegensatz zu Kachelmanns Überzeugung. (Michael Möseneder, DER STANDARD, 18.10.2012)