Wo Russland im Osten aufhört, liegt die Insel Sachalin. Von Moskau aus sind es mit dem Flugzeug gut acht Stunden. 1890, als Anton Tschechow zur damaligen Gefangeneninsel reiste, war er sogar gut drei Monate unterwegs. Besonders angetan war er von seinem Aufenthalt nicht: Als "Ort unerträglicher Qualen", wo "es kein Klima, sondern nur schlechtes Wetter gibt", bezeichnete der Schriftsteller Sachalin.
Inzwischen ist die Insel kein Verbannungsort mehr und dank kürzlich entdeckter riesiger Öl- und Gasvorkommen auch nicht mehr der vergessene Hinterhof Russlands. Der Boom hat tausende Ausländer auf die Insel gezogen, Amerikaner, Holländer und zuletzt sogar eine Wirtschaftsdelegation aus Österreich.
Rohstoffe und Naturwunder
Sachalin ist nicht nur reich an fossilen Rohstoffen: Die Insel lockt mit dunklen Nadelwäldern, klaren Flüssen, sattgrünen Hügeln und tiefblauen Seen. Auf Sachalin können die seltenen Touristen genauso auf wilde Orchideen stoßen wie auf Rentiere. Und Bären. Rund 4000 Braunbären kommen auf 500.000 Einwohner. Eine Nachbarschaft, die nicht immer konfliktfrei ist. Im lokalen Radio berichtet eine Anruferin aufgeregt von einem Tier, das durch einen Datschenort streunt. Immer öfter kommen die Bären in die Siedlungen. Für den Ökologen Roman Schatrow ein deutliches Warnsignal. "Es gibt zu wenige Lachse in den Flüssen", sagt er.
Lachs und roter Kaviar waren lange Zeit die größte Einnahmequelle der Inselbewohner. Auch heute noch ist die Delikatesse ein Wirtschaftsfaktor. Doch der Eingriff des Menschen in die Natur macht sich immer stärker bemerkbar. So wie am Tunaitscha, dem zweitgrößten See Sachalins: Einen leichten Salzgeschmack hat sich das Wasser des Tunaitscha bewahrt. Und doch schöpft sich Schatrow mit der Hand einen Schluck in den Mund: "Fast wie Süßwasser", urteilt er. Früher war der Tunaitscha deutlich salziger. Ein Damm hat den Wasseraustausch mit dem Ochotskischen Meer eingeschränkt. Die vielen kleinen Flüsschen tragen hingegen weiter munter ihr Wasser in den See und süßen ihn an.
Einfache Methode der Fischbarone
Den Lachsen schmeckt dieser Wandel nicht besonders, denn die Fische finden ihre Nahrung, kleine Krebstiere, nur im Salzwasser. Doch das ist noch das kleinere Übel. Der Tunaitscha ist ohnehin nur Zwischenstation der Lachse auf dem Weg vom Ozean zurück in ihre Laichgründe in den Flüssen, wo sie einst zur Welt kamen und wo sie nun - nachdem sie ihre Eier abgelegt haben - an Entkräftung sterben werden. Schlimmer ist, dass der Tunaitscha für viele Lachse inzwischen zur vorzeitigen Endstation geworden ist. Schuld daran sind die Fischbarone der Insel.
Früher wurde der Lachs im Ozean gefangen; eine harte und mitunter gefährliche Arbeit. Wilderer haben sich eine einfachere Methode ausgedacht: Sie spannten ihre Netze an den Flüssen von einem Ufer zum anderen. Kein Fisch konnte ihnen entkommen. Berge ausgenommener Lachskadaver blieben am Tatort zurück, denn die Wilderer hatten es auf den teuren Kaviar abgesehen.
Flusssperre mittels Netz
Die Fangmethode galt als illegal, gefährdet sie doch den Fischbestand. Doch seit 2009 dürfen einige Fischoligarchen, darunter auch ein Senator, ganz offiziell ihr Netz an den Flussmündungen spannen - und auch an einem Engpass im Tunaitscha. Mit einem Kran werden die vollen Netze dreimal am Tag nach oben geholt. Ein dickes Geschäft. Wie viel Schmiergeld dafür fließt, darüber gibt es bestenfalls Spekulationen.
Offiziell dienen die Netze der "Regulierung" des Lachsbestands. Immerhin gibt es neben dem Wildlachs auch Zuchtlachs auf Sachalin. Die Fischfangbetriebe sollen einen Teil der wilden Lachse durchlassen, um deren Überleben zu sichern. In der Realität hängt alles vom guten Willen des Unternehmers ab. "Als Landwirtschaftsminister Fjodorow hier war, haben sie schnell das Netz hochgenommen; kaum war er weg, hing das Netz wieder im Wasser", schildert ein Anwohner dem STANDARD.
Die Auswirkungen sind alarmierend: "In einigen Flüssen werden 95 bis 97 Prozent der Lachse entnommen, damit kann sich die Population nicht regenerieren", sagt der Leiter der Umweltschutzbewegung Ekowachta, Dmitri Lisizyn. Rund 100.000 Tonnen Fisch wurden heuer schon gefangen - offiziell. Wenn es in diesem Tempo weitergeht, dürften die Bestände bald erschöpft sein, fürchtet Lisizyn. Dann werden die Bären für die Datschenbewohner wohl noch gefährlicher. (André Ballin aus Sachalin, DER STANDARD, 18.10.2012)