Foto: Luca Senoner/Beats To Pictures

Tiesto klappert im Rahmen seiner Club Life College Invasion Tour US-amerikanische Unis ab, während Steve Aoki in seinem Schlauchboot über nicht enden wollende Menschenmassen paddelt, auf Händen getragen von ekstatisch kreischenden Jugendlichen. David Guetta jettet von einer ausverkauften Stadionshow zur nächsten, und in der Straßenbahn tönen Avicii und David Guetta aus den Smartphones und Beats by Dre der Generation ADHS. Sebastian Ingrosso zieht in einem Interview Parallelen zwischen der Musik der Beatles und jener von Swedish House Mafia – und als ob das alles noch nicht genug wäre glaubt nun auch Paris Hilton, sich an den Decks versuchen zu müssen.

Dieser illustre Zirkus hat einem Namen, und zwar – einer von Akronymen und kurzen Aufmerksamkeitsspannen regierten Welt entsprechend – einen kurzen und prägnanten: EDM, kurz für Electronic Dance Music. "Eine Fülle von tanzbaren Musikstilen, die sich elektronischer Instrumente bedienen", sagt Wikipedia, der Spiegel des Wissens unserer Zeit. Kein Genre also, sondern ein Überbegriff für viele verschiedene Stilrichtungen elektronischer Musik: Techno, House, Drum&Bass, Trance, Breakbeat (um nur einige der prominentesten Vertreter zu nennen), allesamt seit Jahrzehnten ausgeprägte und mehr oder weniger klar definierte Genres, jeweils eingebettet in eine eigene, weitgehend in sich geschlossene Szene. Abgesehen von einigen wenigen Neuzugängen in der Familie – Brostep, Moombahton et cetera – ist EDM per definitionem auch weiterhin der Sammelbegriff für sämtliche Facetten elektronischer Tanzmusik. Was genau hat sich also geändert, und warum stören sich so viele Menschen daran?

Noch vor wenigen Jahren wäre es unvorstellbar gewesen, Namen wie Tiesto, Felix Da Housecat, Sven Väth und Steve Aoki ständig auf gemeinsamen Bühnen stehen zu sehen, weil damals jeder einzelne von ihnen eine andere Spielart elektronischer Musik repräsentierte, mit völlig unterschiedlichen Zielgruppen. Heute wird das alles und noch viel mehr in einen großen Schmelztiegel geworfen und zu einem massentauglichen Einheitsbrei namens EDM verwurstet.

Der Begriff "EDM" ist also in der Wahrnehmung einer breiten (großteils US-amerikanischen) Masse von einem Überbegriff für eine Vielfalt von Musikrichtungen zu einer Genrebezeichnung per se avanciert. Ein Genre, charakterisiert von simplen Melodien mit Ohrwurmpotential und eingängigen Vocals, die auch die betrunkensten Festivalbesucher_innen innerhalb kürzester Zeit mitsingen können. Was bis jetzt noch wie eine Definition von Popmusik klingt muss nur noch um den obligatorischen Drop erweitert werden – et voilà, Hunderttausende beginnen unkontrolliert zu springen und von EDM und Ravekultur zu faseln. Wie aber konnte es dazu kommen?

EDM – der Soundtrack einer Generation?

Bereits seit Jahren gewinnen verschiedenste Richtungen elektronischer Tanzmusik an Dynamik, einige wenige konnten allerdings den Sprung aus dunklen Clubs in den sonnendurchfluteten Alltag der Durchschnittsverbraucher_innen schaffen: anfangs zögerlich (sei es als eingestreutes Schmankerl im Soundtrack eines Indie-Films oder in Form der Chemical Brothers in avantgardistischen Parfumwerbungen), mittlerweile vollkommerzialisiert und sozial akzeptiert (Dubstep und Teddybären in Werbespots für Kindermüsli, Avicii mit "Levels" als Superbowl Jingle).

Dieser Prozess ist wahrscheinlich so alt wie die elektronische Musik selbst, wurde aber zwischen 2006 und 2008 von einem Phänomen mit dem klingenden Namen "Indie Dance" kräftig angekurbelt, als eine Reihe junger Künstler_innen unter der Führung zweier unfrisierter Franzosen mit Lederjacken und einem leuchtenden Kreuz elektronische Musik durch Anlehnungen an Indie und Alternative plötzlich salonfähig machten. "We Are Your Friends" und der Soulwax-Remix von MGMTs "Kids", die Ed Rec und Kitsuné Maison Compilations, die goldene Ära der MP3-Blogs und der Hype Machine – ein Trend war geboren. Und so wie elektronische Musik vom Mainstream (damals ironischerweise Indie/Alternative) beeinflusst wurde, wurde der Mainstream seinerseits von elektronischer Musik als einem angesagten Phänomen des musikalischen Undergrounds beeinflusst.

Die Situation heute ist jedoch eine grundlegend andere: elektronische Tanzmusik beeinflusst die Popmusik des Mainstreams nicht mehr. Elektronische Tanzmusik wurde selbst zur Popmusik des Mainstreams.

Eine derartige Kommerzialisierung eines Genres bringt so gut wie immer Probleme mit sich, und zwar vor allem dann, wenn die Interessen der sprichwörtlichen alten Hasen der Szene mit jenen der Neuankömmlinge und Trittbrettfahrenden kollidieren. Dann kann es auch schon mal passieren, dass Mark Farina, eine lebende Legende in Sachen House, in Las Vegas von der Bühne entfernt wird, weil der Club Beschwerden über "too much house music" von der Table-Reservation-Schickeria erhalten hat. Oder deadmau5, seines Zeichens selbsternanntes Sprachrohr der EDM-Szene, in dutzenden Tweets seinem Unmut über Madonna freien Lauf lässt, die es bei einem Gastauftritt im Rahmen einer Avicii Show offenbar für notwendig erachtete, sich beim Publikum nach Ecstasy zu erkundigen, „weil man das in der Szene ja eben so macht".

EDM in den USA – ein boomender Wirtschaftszweig

In der Zwischenzeit wächst der Hype um EDM weiterhin explosionsartig und hat den Zenit entgegen aller Prognosen offenbar immer noch nicht erreicht. Das bleibt natürlich auch den internationalen Multis nicht verborgen, und so wird seit geraumer Zeit von Eventservicefirmen, Agenturen und Plattenfirmen mit beiden Händen Geld über der Szene ausgeschüttet – unschwer erkennbar an immer größeren, lauteren und verrückteren Festivals, verstreut über die ganze Welt (Tomorrowland, Holy Ship et cetera). Mit der geballten Marketingfeuerkraft der gesamten Event-Industrie im Rücken wird der Hype um EDM auch weiterhin größer und größer. Je größer, desto größer – ein Teufelskreis?

Wie alle US-amerikanischen Trends schwappt zwar auch dieser in immer größeren Wellen nach Europa über, dennoch handelt es sich immer noch um ein weitgehend nordamerikanisches Phänomen. Elektronische Tanzmusik blickt in Europa auf weitaus längere Wurzeln zurück als irgendwo sonst auf der ganzen Welt, mit vielen eigenständigen, stark ausgeprägten Subkulturen: Techno und Deep House in Berlin, Drum&Bass und Dubstep in England, Filter House und French Touch in, richtig geraten, Frankreich.

Diese Liste ließe sich wohl beliebig erweitern, der springende Punkt aber bleibt derselbe: Clubkultur hat in Europa langjährige Tradition, in den USA nicht. Der Zugang europäischer Fans zu elektronischer Musik ist daher stark mit Clubs verbunden, wogegen in den USA der Konzertcharacter überwiegt: "I think music in America, and this emanates across the world, everybody wants to be a superstar. Everybody wants to actually cut themselves off from people. Everybody wants to be on a pedestal. (...) It's a little bit disappointing how that's happened in America. It's really like the whole rock star, hip-hop mentality. You know, these unreachable people", sagt Technolegende Richie Hawtin in einem Interview, und setzt einen Ratschlag an die neuen Fans nach: "If you just got into Calvin Harris or you just got into Afrojack, great. You've stepped through the door, but there's so much more to learn."

Der Anfang vom Ende?

Im Zuge dieses Booms wurde elektronische Musik komplett neuen Zielgruppen zugänglich gemacht, woran es prinzipiell auch nichts auszusetzen gibt – im Großen und Ganzen hat aber vor allem die Glaubwürdigkeit der Szene unter der andauernden Kommerzialisierung gelitten. Massenfestivals, Feuerwerke, kreischende Teenager und rockstarähnlicher Personenkult werden nach außen hin als Maximen einer Szene kommuniziert, die sich selbst nie zuvor in dieser Form präsentiert hat.

Wie jede künstlerische Szene hat sich allerdings auch die der elektronischen Musik immer wieder selbst neu erfunden – und je größer der Hype um EDM, desto mehr Künstler_innen schwören der Jagd nach dem härtesten Drop ab, und entwickeln so nach und nach einen frischen, neuen Untergrund. Angesichts der raubtierkapitalistischen Kommerzialisierung elektronischer Tanzmusik gewinnen diese neuen Szenen und Subkulturen raschen Zuwachs. Was bleibt also übrig als sich zurückzulehnen und darauf zu warten, dass sich der ganze Spuk in ein paar Jahren wiederholt? (Jakob Bouchal, Leserkommentar, derStandard.at, 23.10.2012)