Neues Wohnen im alten Turm: "Wir müssen umdenken. Wir werden uns die Abbruch-und-Neubau-Politik bald nicht mehr leisten können", ...

Fotos: Frédéric Druot, Larry Williams

... sagt Anne Lacaton

Fotos: Frédéric Druot, Philippe Ruault

Transformation eines ungeliebten Gebäudes aus dem Jahr 1961: Die alte Fassade wurde entfernt, ...

Fotos: Frédéric Druot, Philippe Ruault

... davor steht nun eine drei Meter tiefe Stahlkonstruktion mit Balkonen und Wintergärten.

Fotos: Frédéric Druot, Philippe Ruault

Das schafft mehr Wohnfläche und senkt die Heizkosten um bis zu 60 Prozent.

(Fotos: Frédéric Druot, Philippe Ruault)

Fotos: Frédéric Druot, Philippe Ruault

Erstmals im Leben hat Madame Marie-Jean einen eigenen Balkon, und zwar nicht nur einen Balkon, sondern auch einen zehn Quadratmeter großen Wintergarten. Ehrlich gesagt handelt es sich dabei eher um einen Sommergarten und Winterabstellraum, aber das ist der alten Dame ziemlich egal. Die Hauptsache ist nämlich: Es gibt viel Platz, man sieht den Eiffelturm, ohne sich zu verbiegen, und endlich sind die horrenden Heizkosten wieder auf ein leistbares Niveau gesunken.

Der Tour Bois Le Prêtre am nördlichen Stadtrand von Paris, nur ein paar Meter von der stark befahrenen Ringautobahn Périphérique entfernt, ist das jüngste Paradebeispiel für den Umgang mit alter und bauphysikalisch unattraktiver Bausubstanz. Anstatt den 16-stöckigen Turm in einen Styropormantel zu quetschen oder gar abzureißen und wieder neu aufzubauen, entschied sich Paris Habitat, das für den sozialen Wohnbau in der Stadt zuständig ist, zur Bestandssicherung und Wohnraumverbesserung und schrieb einen Wettbewerb aus. Der Sieg ging an die Pariser Architekten Anne Lacaton, Jean-Philippe Vassal und Frédéric Druot.

Rund um den hässlichen Sechzigerjahre-Wohnturm wurde ein drei Meter tiefes Stahlgerüst gestellt. Die alten Außenwände wurden abgerissen und durch eine Fassade aus Glas und Polycarbonat ersetzt. Dahinter blieb alles beim Alten. Kein Häkeldeckerl musste verschoben, kein Teddybär delogiert werden. Die gewonnenen Quadratmeter sind nicht nur eine Erweiterung des Wohnzimmers in der warmen Jahreszeit, sondern auch ein Wärmepuffer gegen Hitze und Kälte. Die Heizkosten wurden auf diese Weise um 60 Prozent gesenkt.

Wenige Monate nach Fertigstellung des Pionierprojekts (Baukosten rund elf Millionen Euro) widmet das Deutsche Architekturmuseum (DAM) in Frankfurt am Main dem französischen Avantgarde-Büro eine eigene Ausstellung. Die Schau mit dem nüchternen Titel Transformation eines 60er-Jahre- Wohnhochhauses lässt hoffen, dass sich unsere Sichtweise auf die ungeliebten Gebäude aus der Nachkriegszeit dank den neuen technischen Methoden ändern wird. Auch das ist Nachhaltigkeit.

STANDARD: Sie haben ein Faible für Wohnbauten aus der Nachkriegszeit?

Lacaton: Überhaupt nicht! Mein Partner Jean-Philippe und ich, wir wohnen selbst in einer 40-Quadratmeter-Wohnung in einem Siebzigerjahre-Haus. Mehr können wir uns nicht leisten. Ist es nicht verrückt, dass das normale Leben in einer Stadt wie Paris automatisch bedeutet, in einem kleinen und teuren Apartment wohnen zu müssen? Genau das muss sich ändern! Daran arbeiten wir.

STANDARD: Einer dieser Methoden, an denen Sie arbeiten, widmet das DAM derzeit eine Ausstellung.

Lacaton: Ja, wir beschäftigen uns schon seit vielen Jahren mit der Schaffung von kostengünstigem und dennoch großzügigem und attraktivem Wohnraum. Die Transformation des Tour Bois Le Prêtre geht aber noch einen Schritt weiter. Nicht im Neubau müssen wir ansetzen, sondern bei den vielen Bestandsbauten, die nicht mehr attraktiv sind. Vor allem aber sind sie nicht mehr zeitgemäß.

STANDARD: Warum das?

Lacaton: Die Bevölkerungsstruktur hat sich verändert, der Bedarf nach individuellen Wohnangeboten ist gestiegen, die Menschen sehnen sich nach mehr Grün und nach öffentlichem und privatem Freiraum. Viele Wohnhäuser aus den Sechziger- und Siebzigerjahren werden diesen Anforderungen nicht mehr gerecht. Es geht auch um den finanziellen Aspekt: Das Leben in diesen alten Häusern ist, was die Heizkosten betrifft, nicht mehr leistbar und auch nicht mehr ökologisch vertretbar.

STANDARD: Häufig werden solche Häuser abgerissen und durch Neubauten ersetzt.

Lacaton: Leider! Es gibt in Frankreich ein nationales Programm für Stadtsanierung. Dabei sollen alte Wohnviertel wieder auf Vordermann gebracht werden. Doch Fakt ist, dass meist die alte Bausubstanz abgerissen und durch Neubauten ersetzt wird. Auf diese Weise wurden allein im Großraum Paris schon 120.000 Wohnungen zerstört - und das, obwohl es in Paris an 200.000 geförderten und frei finanzierten Wohnungen mangelt! Das ist eine Vernichtung von Ressourcen. Wir werden uns diese Abbruch-und-Neubau-Politik bald nicht mehr leisten können.

STANDARD: Können Sie die Kosten beziffern?

Lacaton: Eine Wohnung kostet im Abbruch und Neubau im Schnitt zwischen 150.000 und 180.000 Euro. Das ist viel Geld. Wir haben daher vorgeschlagen, die bestehende Bausubstanz zu nutzen, zu sanieren und flächenmäßig zu erweitern. Das kostet pro Wohnung nur 40.000 bis 60.000 Euro. Das eröffnet uns viele Möglichkeiten zu einer radikalen Transformation dieser Bauten.

STANDARD: Wie sieht so ein Umbau konkret aus?

Lacaton: Beim Umbau des Tour Bois le Prêtre wurde vor das bestehende Haus eine vorgefertigte Stahlkonstruktion gesetzt. Wir haben die Decken betoniert, einen neuen Fußboden verlegt und eine neue Fassade aus Glas und Polycarbonat errichtet. Und das Wichtigste ist: Der gesamte Umbau konnte bei laufender Nutzung aller 97 Wohnungen stattfinden. Die Leute mussten nicht einmal ausziehen. Nur einmal wird es ungemütlich, und zwar, wenn die alte Außenwand abgebrochen und die Wohnung an den erweiterten Wintergarten angeschlossen wird. Das dauert je nach Wohnungsgröße ein bis zwei Tage.

STANDARD: Klingt clever. Warum macht man das nicht öfter?

Lacaton: Wenn ich das wüsste! Es wäre sehr einfach, so ein Modell flächendeckend umzusetzen. Ich glaube, es mangelt immer noch an der Bereitschaft, sich auf neue Modelle und Experimente einzulassen. Aber ich darf mich nicht beklagen. Ich sehe, dass das Bewusstsein für das Thema in Frankreich allmählich steigt.

STANDARD: Wie wird in den sanierten Wohnungen die Miethöhe festgelegt? Bedeutet mehr Fläche automatisch auch mehr Miete?

Lacaton: Das ist ein wichtiger Punkt. Wie immer orientiert sich auch in Frankreich die Miete immer an der Größe der Wohnung. Das wäre für viele Betroffene eine Katastrophe. Ich kann nur so viel sagen: Man arrangiert sich. Und das funktioniert. Auch der Bauträger weiß: Es geht um mehr Wohnfläche und um finanzielle Entlastung beim Heizen - und nicht um höhere Mieteinnahmen.

STANDARD: Sind die Mieterinnen und Mieter zufrieden?

Lacaton: Ich denke, dass die meisten sehr happy sind. Wir hören keine Klagen.

STANDARD: Wie lautet Ihre Vision für die Zukunft?

Lacaton: Meine Vision ist meine Arbeit. Ich habe mich entschieden, mich für die Schaffung von innovativem, leistbarem Wohnraum einzusetzen. Damit könnten die Lebensumstände in der Großstadt für viele Menschen verbessert werden. Ich werde meiner Auffassung von Architektur treu bleiben und unsere ökologischen und sozialen Ideen weiterentwickeln und weiterentwickeln und weiterentwickeln. (DER STANDARD, ALBUM, 20./21.10.2012)