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Dass ganze Ortschaften gegenüber Industrie-Projekten den Kürzeren ziehen ist nichts Neues. Tagebau, Hafenvergrößerungen, Stauseen haben schon öfter ganzen Dörfern ihre Existenz gekostet. Jetzt ist Kiruna dran.

Foto: EPA/Pasulin

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Betroffen vom Umzug sind vor allem die historischen Arbeiterviertel und der über Jahrzehnte gewachsene Ortskern.

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Kiruna in Nord-Schweden kennt vor allem, wer sich für Rohstoffabbau interessiert. Seit mehr als 100 Jahren verdanken die Menschen hier im unwirtlichen Lappland dem kostbaren Rohstoff - unentbehrlich für Europas Industriestaaten - Arbeit und einen gewissen Wohlstand. Die nördlichste Stadt Schwedens ist rund um das Bergwerk gewachsen. Ein riesiger Erzkörper verläuft diagonal unter dem Stadtzentrum, in über 1.000 Meter Tiefe soll genügend Erz für die nächsten Jahrzehnte liegen. Direkt darüber: Das Zentrum der Stadt.

Der lukrative Abbau zeitigt schon seit geraumer Zeit recht unangenehme Folgen: Der Boden sackt ab, der Bergbau droht die Stadt zu verschlingen. Durch den massiven Untertagbau ist der Boden vor allem südlich und nördlich der Stadt stark unterhöhlt. Unmittelbar bedroht ist rund ein Drittel der Stadtfläche mit dem Rathaus aus massivem Backstein, Einkaufspassagen, Wohnblocks, Hotels und Restaurants.

Eingestürzte Stollen

In den vergangenen Jahren kam es immer wieder zum Einsturz von Stollen. Im Jahr 2008 starb ein Grubenarbeiter, acht Kumpel wurden im selben Jahr von Sturzmassen vorübergehend eingeschlossen. Die staatliche Bergbaugesellschaft LKAB (Luossavaara-Kiirunavaara Aktiebolag) spielte die Vorfälle herunter und wies alle Vorwürfe wegen unzureichender Sicherheitsvorkehrungen zurück. Die Grube gilt als der weltgrößte Untertagebau und ist das wichtigste Bergwerk der LKAB.

Geologen haben schon länger davor gewarnt, dass die uneingeschränkte Abbautätigkeit das Stadtzentrum bedroht. LKAB zeigte sich unnachgiebig und als größter Arbeitgeber in der Region fest entschlossen, den einträglichen Abbau des als besonders hochwertig geltenden Erzes von Kirunavaara und Luossavaara auch in den kommenden Jahrzehnten fortzusetzen. Bereits im Jahr 2004 stellte die Kommunalverwaltung die Weichen für die Verlegung der Stadt. Rund 3.000 Häuser und Wohnungen müssen geräumt werden.

Gigantisches Umsiedelungsprojekt

Mittlerweile ist klar, wohin die Reise geht. Die gesamte Innenstadt siedelt um. Rund drei Kilometer gen Osten, dort wo jetzt eine städtische Müllhalde und eine stillgelegte kleine Mine liegen. Im Rathaus wird mit Hochdruck an dem gigantischen Umsiedelungsprojekt gearbeitet. Für das neue Kiruna wurde ein internationaler Architektenwettbewerb ausgelobt. Mitte Dezember sollen sie ihre Ideen vorlegen, Ende Februar wird eine Jury aus Stadtpolitikern und Architekten den Sieger küren.

Was man jetzt schon weiß: Alle Gebäude, die demontierbar sind, sollen mit umziehen. Die denkmalgeschützte Kirche soll in Teile zerlegt und am neuen Standort wieder zusammengesetzt werden. Auch die Stadthalle muss vor einem Umzug zunächst in Teile zerlegt werden. Das Rathaus wird abgerissen, eine Verlegung wäre zu teuer. Die alten Holzhäuser, der ganze Stolz von Kiruna, sollen auf großen Anhängern abtransportiert werden.

Von den vielen historischen Gebäuden im Ortskern werden aber ingesamt wenige erhalten bleiben, nur 20 architektonisch besonders wertvolle Bauten ziehen mit den Einwohnern um. Andere wird man neu bauen. In zwei Jahren sollen die ersten Häuser bezugsfertig sein, wenn alles nach Plan läuft.
Bis 2023 müssen 1.700 bis 3.000 Menschen ihre Häuser verlassen. Die ersten Wohngebiete müssen vermutlich schon im kommenden Sommer geräumt sein. Die Bewohner würden die Verlegung nicht negativ sehen, heißt es immer. Es gebe viel Verständnis für den Schritt. Vielen sei klar: Ohne seine Mine könne Kiruna nicht überleben.

Unsicherheit liegt in der Luft

Ob und wie die Bewohner mit der neuen Situation umgehen sollen, ist vielen derzeit offenbar nicht klar. Nach schwedischem Recht ist die LKAB verpflichtet, die zu räumenden Häuser, Wohnungen oder Geschäfte zum aktuellen Marktpreis zu kaufen - plus 25 Prozent Prämie. Den Konzern würde das laut "Financial Times Deutschland" (FTD) zwei bis drei Milliarden Euro kosten. Doch die, die umsiedeln sollen, sind von der finanziellen Abgeltung wenig angetan. Moderne energieeffiziente Neubauten würden wohl nur zu einem Aufpreis von 50 Prozent zu haben sein. Wer die Differenz bezahlen soll, sei noch unklar. Angst haben laut FTD auch jene, die jetzt nahe am Zentrum leben. Sie rutschen praktisch an den Rand.

Doch andererseits ist die Zukunft ohnedies offen. Wenn die Nachfrage aus den Schwellenländern den Rohstoffpreis weiter antreibt, könnte der Staatskonzern noch tiefer graben. Mindestens 2.000 Meter unter der Erde liegt auch noch Erz. Wenn auch diese Vorkommen erschlossen werden, müssen vermutlich weitere Bewohner umsiedeln. Vielleicht sogar das neue Kiruna, das jetzt noch gar nicht steht. (rb, derStandard.at, 23.10.2012)