Mutter hat mit ihrem Lover den Vater gemordet. Die Kinder Elektra (Christiane von Poelnitz) und Orest (Tilo Nest) - hier in Schockstarre - sinnen auf Rache. Die Musik dazu macht Soap & Skin. 

Foto: Burgtheater / Georg Soulek

Michael Thalheimer, geboren 1965 in Münster, ist ausgebildeter Schlagzeuger, Schauspieler und Regisseur. Mit seinen verdichteten Klassiker-Inszenierungen war er öfters beim Theatertreffen Berlin. Zweimal erhielt er den "Nestroy".

Foto: Standard/Heribert Corn

Warum ihm solch exponierte Figuren lieber sind als zeitgenössische Dramatik, erfuhr Margarete Affenzeller vor der Premiere am Donnerstag.

STANDARD: Ihre Werkliste weist vorwiegend Klassiker auf. Neuere Dramatik scheint Sie nicht sehr zu interessieren. Warum?

Michael Thalheimer: Das stimmt nicht. Mich interessiert die neue Dramatik sehr, und ich halte zeitgenössische Autoren für ausgesprochen wichtig für das Theater. Allerdings inszeniere ich seltenst einen neuen Text. Dea Loher und Jon Fosse sind Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Texte der Antike lösen bei mir einfach mehr aus. Es sind große, starke Gedanken und große, starke Konflikte, die ich in der neuen Dramatik vermisse. Die ist mir leider doch oft zu beliebig, wie ein Blick aus dem Fenster - das ist mir zu zuständlich.

STANDARD: Sind Ihnen die heutigen Figuren zu wenig exponiert? Für einen Protagonisten wie Johann Holtrop von Rainald Goetz gibt es in der jetzigen Theaterliteratur ja tatsächlich keine Entsprechung.

Thalheimer: Stimmt. Die Figuren sind weitgehend nicht sehr ausgeprägt. Und es ist eben nicht so interessant, sich mit hochkarätigen Schauspielern zusammenzusetzen und dann Befindlichkeiten eines Autors zu untersuchen.

STANDARD: Eine Figur wie Elektra ist zudem überhöht zu lesen ...

Thalheimer: Ja, Elektra existiert nur auf der Bühne. Sie ist eine Idee. Meine Zeitgenossen schaue ich mir lieber im Kaffeehaus an. Da habe ich unter Umständen das intensivere Theaterstück als das zeitgenössische Geschriebene.

STANDARD: Warum haben Sie sich für die Hofmannsthal-Variante der " Elektra" entschieden?

Thalheimer: Weil sich das Burgtheater für diese Saison einen österreichischen Spielplan vorgenommen hat, sodass sich auch ein anderes Projekt von mir um ein Jahr verschiebt. Von Hofmannsthals Sprachgewalt und seiner Stringenz war ich sofort fasziniert. Das Stück hat ja keine Akte, es beleuchtet einen Moment im Leben dieser fünf Familienmitglieder, die schicksalshaft durch die Ermordung Agamemnons, des Vaters, miteinander verbunden sind. Diese Klaustropobie hat mich gereizt. Es ist wie ein einziger Pinselstrich, wie ein langes Gedicht. Ein Glück für mich, da ich ja selber gerne Dinge eindampfe.

STANDARD: Hofmannsthal schrieb das Stück 1903, in einer Zeit, in der die Psychoanalyse aufkam. War das für Sie ein Angelpunkt?

Thalheimer: Interessant allemal. Doch es sind mehr als hundert Jahre vergangen. Mittlerweile geht man mit der Psychologie wieder anders um. Mir geht es aber nie um das Psychologisieren von Rollen, sondern um die Sichtbarmachung von klaren Gedanken und klaren Emotionen. Es geht um das Wissen der Schauspieler auf der Bühne. Das Überpsychologisieren halte ich am Theater für gefährlich bis langweilig. Zumal: "Elektra" ist eine Legende, eine Mythologie.

STANDARD: Ich meinte, ob Sie z. B. Hysteriestudien als Material verwendet haben, Körperhaltungen und dergleichen?

Thalheimer: Ach so, ja, wir haben Studien zur Angst gelesen, zum Trauma. Beim Lesen weckt das Fantasien, das hat bestimmt die Arbeit beeinflusst. Mehr nicht.

STANDARD: Wie wecken Sie eigentlich die Produktivität der Schauspielerinnen und Schauspieler?

Thalheimer: Ich glaube, durch Immer-wieder-Lesen und Diskutieren über den Text. Der Schauspieler steht immer im Zentrum. 75 Prozent der Konzeption sind für mich die Besetzung. Und dann gilt es dem Schauspieler ein uneingeschränktes Vertrauen zu schenken. Damit sie oder er Dinge probiert, die sonst versteckt blieben oder nicht erahnbar waren. Ich bin kein Freund von wilden Improvisierereien. Wenn man den Schritt auf die Probebühne macht, sollte jeder wissen, worum es genau geht, und das wird auch probiert.

STANDARD: Ihre Inszenierungen sind bis ins letzte Detail kontrolliert. Wie weit greifen Sie ein, auch bei Mimik und Gestik der Spieler?

Thalheimer: Ich mag das Wort "Kontrolle" nicht, auch wenn ich weiß, wie Sie es meinen. Es gibt nichts, was nicht benannt werden würde auf der Probebühne. Im Grunde gilt es immer den einer Szene zugrunde liegenden Gedanken zu klären. Das Fundament muss stimmen, und damit ändert sich auch die Äußerlichkeit. Wenn die Partitur dann organisch angenommen ist, dann soll der Schauspieler auch die absolute Freiheit spüren.

STANDARD: Haben Sie sich auch die "Szenische Vorschreibung" von Hofmannsthal zu Herzen genommen, wonach Unentfliehbarkeit die Bühne charakterisieren soll?

Thalheimer: Bühnenbildner Olaf Altmann und ich haben uns das sehr, sehr, sehr zu Herzen genommen. Mehr möchte ich aber vorab nicht verraten.

STANDARD: Sie gelten als Schauspieler-Regisseur. Inwiefern hilft Ihnen Ihr Erstberuf des Schauspielers bei der nunmehrigen Arbeit als Regisseur?

Thalheimer: Mitunter spür ich schon, dass ich weiß, wie es da oben auf der Bühne ist. Das hilft, wenn man es selbst schon einmal erlebt hat, nicht in der Qualität zwar wie in diesem Ensemble hier an der Burg, aber diese Erfahrung stützt mich. (Margarete Affenzeller, DER STANDARD, 23.10.2012)