
Heinz Düx, pensionierter Jurist in Unruhe, über seine Außenseiterposition im Auschwitz-Prozess: "Ich bin nicht auf der bürgerlichen Welle mitgeschwommen. Das hat meine Position geschwächt."
STANDARD: Ihre große Leistung im Frankfurter Auschwitz-Prozess in den 1960er-Jahren war, dass Sie die Zeugen so detailliert befragten, dass die deutsche Öffentlichkeit erstmals das bestialische Regime in den KZs deutlich vor Augen bekam. Woher hatten Sie die Kenntnisse?
Düx: Die hatte ich, in abstrakter Form, schon zuvor. Ich habe als Kind die Judenverfolgung in Marburg erlebt. Ich kann mich entsinnen, dass ein jüdischer Student mit einem großen Schild um den Hals "Ich habe ein Christen-Mädchen geschändet" durch die Straßen getrieben wurde. Das hat mich als Zehn-, Zwölfjährigen schon stark beeinflusst. Die Details von den Massentötungen hatte ich zwar nicht, aber man wusste natürlich, dass die Nazis mit vermeintlichen Gegnern nicht human umgegangen waren. Das wusste jeder. Und die Leute, die behaupten, sie hätten das nie gewusst: Das halte ich für eine Lüge.
STANDARD: Der Dokumentarfilm "Der Einzelkämpfer", der gerade in Wien präsentiert wird, zeigt Ihren Kampf um den Prozess in Frankfurt, der Sie in Gegensatz zur Justizelite im Nachkriegsdeutschland gebracht hat. Sie waren damals ein Außenseiter, warum das?
Düx: Ich bin nicht auf der bürgerlichen Welle mitgeschwommen, die damals hochschwappte. Das hat meine Position geschwächt.
STANDARD: Was war die bürgerliche Welle?
Düx: Der Nationalsozialismus kam ja praktisch legal an die Macht - aufgrund des Ermächtigungsgesetzes, das die Bürgerlichen unterstützten. Die Kommunisten waren alle verhaftet, nur die SPD widersetzte sich dem. Als der Nationalsozialismus zusammenbrach, war die bürgerliche Welt zunächst kleinlaut. Nach einer Zeit fand dieser Zusammenschluss gegen die Linke wieder statt. Der Kalte Krieg ab 1948/49 hat das begünstigt.
STANDARD: Sind Sie nicht ungerecht? Kann man so pauschal sagen, das Bürgertum sei schuld an Hitlers Aufstieg?
Düx: Pauschal geht das natürlich nicht, es gab auch bürgerliche Kritiker des NS-Regimes. Zu meiner Großmutter kamen Damen aus der katholischen Diaspora zu Kaffeegesellschaften. 1934, nach dem sogenannten Röhm-Putsch, saßen die Damen weinend zusammen, besorgt darüber, dass auch Priester zu Schaden kommen könnten.
STANDARD: Es gab vor dem Auschwitz-Prozess fast 1000 Anzeigen, aber nur 17 Verurteilungen. Waren Sie mit dem Prozessausgang zufrieden?
Düx: Ich war einigermaßen zufrieden. Man hätte den Prozess noch intensiver gestalten können, gewiss. Aber die Widerstände waren doch beträchtlich.
STANDARD: Wie wurde der Prozess in der Bevölkerung aufgenommen? Es heißt, Polizisten hätten vor SS-Schergen im Gericht salutiert?
Düx: Das wird vorgekommen sein. Aus eigener Beobachtung kann ich das nicht bestätigen. Dass manche der Angeklagten von der Bevölkerung als ihresgleichen angesehen wurden, halte ich für zutreffend. Man muss sehen, die Auschwitz-Angeklagten setzten sich aus allen möglichen Berufsgruppen zusammen: vom Sparkassendirektor bis zum Arbeiter. Das war ein Sammelsurium des sogenannten gewöhnlichen Deutschen.
STANDARD: Sehen Sie diese "bürgerliche Justiz" heute noch? Gab es da einen Bruch?
Düx: Den Bruch gab es 1968. Die Studentenrevolte kann man als kleine Kulturrevolution betrachten. Das war ein partieller Befreiungsschlag. Die Strukturen sind zum Teil aber noch vorhanden - in abgemilderter Form.
STANDARD: Sie sagen in dem Dokumentarfilm, Deutschland habe wegen seiner NS-Vergangenheit bis heute keine Legitimation, in Menschenrechtsfragen zu sprechen. Halten Sie diesen Satz aufrecht?
Düx: Zumindest sollte man sich mit Rücksicht auf die Vergangenheit zurückhalten. Mit einem zeitlichen Abstand von 100 Jahren, wenn nichts Neues passiert, ist man wieder dazu legitimiert.
STANDARD: Sie sind furchtbar streng zu Deutschland - wie sehen Sie Österreich, das seine Aufarbeitung Jahrzehnte später begonnen hat, unter internationalem Druck?
Düx: Wenn ich die Wochenschauen von 1938 sehe, als der Anschluss vollzogen wurde: Viel nachgestanden hat die österreichische Bevölkerung der deutschen nicht.
STANDARD: Haben Sie während des Frankfurter Auschwitz-Prozesses auch nach Österreich geschaut, ob sie da irgendetwas tut?
Düx: Ich habe damals einen hiesigen Untersuchungsrichter kennengelernt, der auch einen Auschwitz-Prozess führte. Ich war ein paar Mal hier am Landesgericht für Strafsachen und habe mit ihm gesprochen. Was aus dem Prozess geworden ist, weiß ich aber nicht.
STANDARD: Die Aufarbeitungen von NS-Verbrechen in Österreich war eher lasch. Der als Kriegsverbrecher gesuchte Milivoj Asner lebte unbehelligt im Land, 2011 starb er in einem Klagenfurter Pflegeheim.
Düx: Ja, solche Fälle gibt es natürlich auch in Deutschland.
STANDARD: Oder der Fall Heinrich Gross, jener auch nach dem Krieg angesehene, von der SPÖ lange geschützte Mediziner, der wesentlich am NS-Euthanasieprogramm an Kindern in Wien beteiligt war. Der stand dann zwar vor Gericht, konnte aber wegen angeblicher Demenz nicht belangt werden.
Düx: Tatsächlich? Damit habe ich mich nicht beschäftigt. Ich war mit dem Euthanasieprogramm im Kinderheim Hartheim bei Salzburg befasst. Da ging es aber nur um einige Leute, die dort in der Verwaltung tätig waren. Der eigentliche Euthanasie-Arzt in Hartheim ist gestorben, bevor es zum Prozess kommen konnte. Von den Verwaltungsleuten haben drei oder vier noch ein paar Jahre Zuchthaus bekommen.
STANDARD: Ist die späte Restitution wenigstens geglückt, oder gibt es nach wie vor weiße Flecken?
Düx: Die gibt es, und das sehen Sie an Folgendem: Die Entschädigungsgesetze waren natürlich unzureichend, die meisten haben nur ein Almosen bekommen.Was sind 5000 D-Mark, gemessen an den Jahren, die einer in einem Lager verbracht hat?
STANDARD: In Österreich sprach man von Gesten ...
Düx: ... wie auch in Deutschland. Ein jüdischer Schriftgelehrter sagte einmal: "Sprich wenig und tue viel." Wir haben etwas getan, aber man hätte noch mehr tun können. Geredet wurde hingegen sehr viel.
STANDARD: Also doch zu wenig aus der Geschichte gelernt?
Düx: Ich habe die Hoffnung, dass sich so etwas nicht wiederholt. Aber die Gefahr ist vorhanden, und sie wird akut, je stärker die Finanzkrise ist. Das kann man fast kabarettistisch beantworten: Die Deutschen sind ein Volk von Jägern. Judenjäger, Kommunistenjäger, Schnäppchenjäger. (Peter Mayr/Petra Stuiber, DER STANDARD, 25./26.10.2012)