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Seelenort Zentralfriedhof: Die Trauer richte laut Dichtermeinung in den Herzen der Lebenden größeren Jubel an als die Freude.

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Wolf Wondratschek.

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"Wien, die kleine Konditorei am Rande des Balkans." Fritz Lang (geboren in Wien)

"Wie gerne ich mich an Wien erinnere! Und wie ich Dich beneide! In jedem Champagnerglas wird musiziert. Ein Selbstmord ist die selbstverständlichste Sache der Welt, da blickt keiner von der Zeitung auf. Überhaupt die erstaunliche Zähigkeit dieser Österreicher, gesalbt durch Blutströme aus aller Herren Länder, vor allem der Länder des Ostens.
Wie sie es hinkriegen, dass es sie überhaupt noch gibt? Ein großes Reich einst, dem am Ende die Erfindung der Onanie übrigblieb! Findest Du nicht auch, dass in dieser Stadt an jeder Straßenecke das Jenseits beginnt? Man möchte noch einmal Karussell fahren, bevor einem der Sensenmann, jener feine Herr, endgültig seine Visitenkarte in die Hand drückt. Das ganze Wien ist ein einziges Monument meiner Melancholie."

So schwärmt - in meinem Roman Kelly-Briefe - ein offenbar verrückter Dichter von der alten Kaiserstadt.

Im eigenen Zitat

Heute wohne ich selbst in Wien, angekommen im eigenen Zitat, mit der für einen Dichter einzigen Rechtfertigung, etwas von der ungewissen Wahrheit meiner Existenz hinüberzuretten in Verse eines Gedichts, eine Erzählung oder einen Roman. Für derartige Experimente mit dem eigenen Leben ist Wien ein Ort vieler Wunder. Ich habe sehr das Gefühl, ich bewohne ein Museum. Was dort ausgestellt ist? Vergangenheit, Einsamkeit, Langsamkeit. Eine Approbation für die Zukunft ist im Ticket nicht inbegriffen.

Ich selbst unterziehe mich also dem Experiment, in dieser Wiener Stimmung unterzutauchen. Während die Welt den Menschen davoneilt, beharrt Wien auf der Gegenwart seiner Geschichte. Und wie wird es dafür geliebt.

Der Vorschlag, Österreich einzuzäunen und über dem Eingang ein Schild mit der Aufschrift "So lebte man früher" anzubringen, stammt zwar von einem Künstler, muss deshalb aber nicht falsch sein. Wien ist eine Stadt, in der sich der Mangel an Beschleunigung dem Gemüt einprägt. Und die Toten, deren Schatten noch heute durch die Gassen huschen, bringen unser Zeitgefühl durcheinander - eine metaphysische Wiener Spezialität.

Ich fühle mich nicht belästigt. Mir reicht das Kopfsteinpflaster kleiner Gassen, ein Nachtcafé abseits, eine Mondnacht mit Gesprächsfetzen Vorbeigehender, die Türkisch, Russisch, Polnisch oder Tschechisch reden, das irgendwie übriggebliebene Wien der touristisch unergiebigen Bezirke. Ich unterhalte keinen Umgang mit der Gesellschaft. Die einfachen Leut' reichen mir bei ihrer Bemühung, am Leben zu bleiben, ohne recht daran zu hängen, und das kleine Versteck, das ich bewohne.

Für Wien gilt, was Tomasi di Lampedusa an London rühmte, sie sei "die einzige Stadt, die vollkommen die Wollust vermitteln kann, zu verschwinden, niemand mehr zu sein."

Gleichzeitig berührt mich die Erinnerung an alles, was in diesem Wien geschah, was hier komponiert und gedacht, gemalt und gebaut, gedichtet, gespielt und gesungen wurde. So heißt es am Ende eines meiner Gedichte:

Aber von vielem, was vergangen, sagt man doch.

Damals in Wien hat es angefangen. Ich bin nicht viel in Österreich herumgekommen. Ich kenne das Land nicht, die Landschaften, die eingeborenen Menschen. Für das, was ich bin, einer mit slawischem Blut, ein Raucher und Kaffeetrinker, genügt mir die Hauptstadt. Ein Ort für einen, der lieber mit den Toten lebt als mit den Lebenden. Nur in Mexiko sind die Toten noch lebendiger. Mir gefällt das.

In den Seelen mancher Menschen richtet die Trauer einen größeren Jubel an als die Freude. Ja, lieber Joseph Roth, du hast recht. So funktioniert Wien.

Wenn Sie das Gefühl haben, nichts von der Welt, in der Sie leben, akzeptieren zu können, gehen Sie nach Wien.   (Wolf Wondratschek, DER STANDARD, 25./26.10.2012)