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Hans-Werner Sinn läuft derzeit einziges zuwider.

Foto: Reuters/Rehle

STANDARD: Die Europäische Union hat vergangene Woche den Friedensnobelpreis erhalten. Freuen Sie sich?

Sinn: Ich finde es völlig richtig, dass die EU den Friedensnobelpreis bekommen hat. Aber dem Euro hätte ich diesen Preis nicht gegeben. Wir müssen aufpassen, dass wir wegen des Eurosystems jetzt nicht alles zerstören, was wir in der EU aufgebaut haben. Ich möchte nicht missverstanden werden. Der Euro hat offenkundige Defekte und die müssen repariert werden. Das heißt aber nicht, dass wir den Euro abschaffen.

STANDARD: Aber darum ringt ja die europäische Politik. Sie will wieder das Primat der Politik herstellen.

Sinn: Es gibt kein Primat der Politik über die ökonomischen Gesetze, genauso wenig wie es ein Primat des Architekten über die Gesetze der Statik gibt. Der Euro war ja ein politisches Projekt. 20 Jahre nach dem Maastrichter Vertrag sehen wir, dass er überhaupt nicht funktioniert und Unfrieden in Europa schafft, weil eine Reihe von Ländern in eine schwere Krise gestürzt ist.

STANDARD: Wie müssen wir den Euro reformieren?

Sinn: Das braucht eine Reihe von Maßnahmen, etwa bei der Europäischen Zentralbank. Wir müssen die Aktivitäten der EZB begrenzen, denn sie macht eine asymmetrische Politik. Die Zentralbank kauft in der Eurozone nur die Anleihen der Krisenländer und nicht auch die der anderen Länder. Das würde etwa in Amerika nie passieren. Die Fed (US-Notenbank, Anm.) würde immer die Geldmenge gleichmäßig verstreuen. Die EZB aber macht Regionalpolitik und das ist nicht ihre Aufgabe.

STANDARD: Wie kann man das ändern?

Sinn: Wir müssen die Stimmverhältnisse im EZB-Rat ändern. Die Länder müssen je nach ihrer Haftung entscheiden können. Deutschland hat heute in der EZB so viel zu sagen wie Malta und wird permanent überstimmt. Seit Mai 2010 ist die Bundesbank in die Minorität geraten. Bundesbank-Chef Axel Weber und EZB-Chefvolkswirt Jürgen Stark sind aus Protest gegen die Politik der Anleihenkäufe zurückgetreten, und der amtierende Bundesbank-Chef Jens Weidmann tritt zwar nicht zurück, protestiert aber öffentlich, auch gegen die Target-Salden.

STANDARD: Sie kritisieren das Zahlungsverkehrssystem Target sehr scharf. Was ist Target?

Sinn: Das sind grenzüberschreitende Zahlungen, die durch das Zentralbankensystem laufen. Wenn also Griechen deutsche Waren kaufen oder ihre Schulden bei deutschen Gläubigern tilgen, dann entsteht ein Saldo mit der griechischen und der deutschen Notenbank. Die Bundesbank kreditiert diese Zahlungen für die Griechen, indem sie dem deutschen Empfänger der Zahlung eine Gutschrift gibt. Normalerweise würde sich das ausgleichen, weil auch die griechische Zentralbank Zahlungen für die Bundesbank durchführt. Das ist aber schon lange nicht mehr der Fall. Die Bundesbank hat auf diese Weise inzwischen Kredite von 700 Milliarden Euro an andere Zentralbanken des Eurosystems gegeben. Dafür erhielt sie eine Forderung, die in ihrer Bilanz steht.

STANDARD: Davon ist aber nichts verloren, nur verliehen, oder?

Sinn: Ja, verliehen. Die Südländer haben bei der Bundesbank anschreiben lassen. Wir werden einen erheblichen Teil verlieren, aber die Art des Verlustes ist noch nicht klar. Ein Szenario ist aber, dass die Salden einfach jahrelang stehen bleiben und durch die Inflation verdampfen.

STANDARD: Was ist die Alternative? Würden wir die Target-Salden plötzlich tilgen, wäre das doch ein massiver Schock im Finanzsystem.

Sinn: Man muss sicher eine Übergangslösung finden, aber es kann ja nicht sein, dass sich einfach immer mehr Schulden auflaufen. Wir brauchen für die Gläubigerstaaten ein sicheres Portfolio an Vermögenswerten, das immer neu aufgeteilt wird, je nach dem Saldenstand. Zahlungsbilanzsalden sind historisch immer durch Gold ausgeglichen worden. In Europa wird bloß angeschrieben, und man kann die Salden auflaufen lassen.

STANDARD: Sie möchten, dass die Salden rückgeführt werden.

Sinn: Genau. Dazu müssten etwa die Zinsen hoch genug sein, wenn sich ein Land bei den anderen verschuldet, um es davon abzuschrecken einfach den hohen Überziehungskredit zu nutzen. So funktioniert etwa das amerikanische System. Deswegen sind die Salden in den USA immer wieder auf Null zurückgekommen, während sie in Europa bei 1000 Milliarden Euro liegen. Auf der Schuldnerseite stehen Griechenland, Spanien, Portugal, Irland, Italien und Zypern und auf der Gläubigerseite Deutschland, Holland, Finnland und Luxemburg. Deutschland hat den größten Brocken mit 700 Milliarden. Es könnte sein, dass die Target-Salden wieder runtergehen, dadurch dass man andere Schuldinstrumente an deren Stelle setzt. Etwa wenn die EZB weiter Staatsanleihen kauft. Aber das wäre in etwa so, als würden wir die Platin-Kreditkarte auf den Tisch legen, weil wir nicht wollen, dass die goldene Karte zu sehr genutzt wird.

STANDARD: Sie sind gegen Staatsanleihenkäufe?

Sinn: Aus mehreren Gründen. Ich halte die aktuelle Rettungspolitik für politisch gefährlich. Wenn sich private Kreditnehmer in Spanien oder Portugal heute verschulden, tun sie das nicht mehr über private Geldgeber, sondern über die EZB, über das Target-System, oder über die Rettungsfonds. Damit heben wir die Kreditbeziehung zwischen privaten Firmen und Investoren von der privaten auf die staatliche Ebene. Das ist gefährlich, weil Schuldner und Gläubiger nie in einer guten Beziehung zueinander stehen. Solange diese Beziehung privater Natur ist, haben wir das Rechtssystem, um den Streit zu kanalisieren. Doch wir heben die Kreditbeziehung auf die zwischenstaatliche Ebene und machen sie zum Gegenstand des öffentlichen Diskurses. Das führt zu einem Maximum an Streit in Europa.

STANDARD: Brauchen wir eine noch engere Währungsunion?

Sinn: Wir brauchen eine offene Währungsunion. Wir haben nun mal nicht den gemeinsamen europäischen Staat also können wir es auch nicht machen wie die Amerikaner. Wir müssen die rigide Währungsunion reformieren und zulassen, dass an den Rändern der Gemeinschaft jene Länder, die gar nicht mehr wettbewerbsfähig sind, austreten und abwerten.

STANDARD: Kann Griechenland im Euro wettbewerbsfähig werden?

Sinn: Wenn man durch Sparprogramme die Löhne und Preise so stark drückt, bis das Land wettbewerbsfähig ist, zerbricht uns zuvor die Gesellschaft des Landes. Das geht einfach nicht. Daher müssen wir eine verträgliche Alternative schaffen, einen Austritt ohne Ansteckungsgefahren und ohne Katastrophenszenario. Das geht.

STANDARD: Wie?

Sinn: Wir müssen den Austritt begleiten: mit einer Bankenrettung, mit Zuschüssen für sensible Importe, die mit der Zeit teurer werden. Und wir müssen die Rückkehroption in den Euro bereitstellen. Ein Euro-Austritt gibt endlich Hoffnung. Im Moment opfern wir in Griechenland eine ganze Generation junger Leute, die keine Stelle kriegen. Über die Hälfte der jungen Menschen ist arbeitslos. Das alles im Namen des Euros. Das halte ich für unverantwortlich, gegenüber der griechischen Bevölkerung und auch des europäischen Gedankens.

STANDARD: Aber Wettbewerbsfähigkeit ist doch ein relatives Konzept. Sollte nicht Deutschland etwas höhere Inflation haben, etwa durch höhere Lohnabschlüsse, damit wir das Ungleichgewicht in Europa abbauen?

Sinn: Wir müssen an allen Schrauben drehen und dazu gehört auch die Inflation in Deutschland. Doch eine künstliche Inflationierung über Lohnabschlüsse ist kontraproduktiv, weil sie Arbeitsplätze vernichtet und in die Rezession schickt. Dann wird Deutschland nicht mehr aus anderen europäischen Ländern importieren, doch nur dann bauen sich ja die Ungleichgewichte in der Eurozone ab.

STANDARD: Wie sieht ein produktiver Boom Deutschlands aus?

Sinn: Wir müssen dafür sorgen, dass die deutschen Sparvermögen wieder in Deutschland investiert werden. Das wird einen Investitionsboom bringen. Doch das steht der ganzen Rettungsphilosophie ja entgegen. Die Aktion der EZB und die Maßnahmen des Rettungsfonds ESM laufen ja darauf hinaus, dem deutschen Kapital bei der Investition in Südeuropa Geleitschutz zu geben. Wenn Geleitschutz gegeben wird, ist das Kapital weg, und dann gibt es keinen deutschen Boom und keine Anpassung der Leistungsbilanzen.

STANDARD: Die britische Notenbank hat jüngst diskutiert, die Staatsschulden, die sie in der Krise aufgekauft hat, in naher Zukunft einfach zu erlassen. Wird das auch in Europa passieren?

Sinn: Auf diese oder andere Lösungen wird es hinauslaufen. Genau das stört mich ja so. Man lässt zu, dass die privaten Gläubiger ohne große Verluste die maroden Papiere an die öffentlichen Gläubiger abgeben. Das ist das normale Spiel nach Krisen. Die privaten Gläubiger versuchen noch in allerletzter Minute, ihre Papiere an den Steuerzahler loszuwerden und sagen, dass sonst die Welt zusammenbreche.

STANDARD: Aber wird eine Pleite nicht tatsächlich zu einem Kaskadeneffekt führen und andere Schuldner anstecken, weil das Vertrauen verschwindet?

Sinn: Man übertreibt aus durchsichtigen Motiven. Das Argument mit dem Kaskadeneffekt gilt auch in die andere Richtung. Wir destabilisieren zusehends die europäischen Staaten. Die Lasten der Eurokrise für die gesunden Länder der Eurozone werden sehr gravierend sein. Wenn ich dazu an die demografische Krise denke, die wir ohnedies in 15 bis 20 Jahren zu spüren bekommen, wird mir Angst und Bange. Wir destabilisieren derzeit die Staaten Europas, und diese Gefahr ist mindestens genauso groß, wie wenn wir irgendwelche Banken destabilisieren. (Lukas Sustala, DER STANDARD, 27./28.10.2012)