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Die unabhängige Kandidatin Josefa Errazuriz feiert ihre Sieg über einen Veteranen der Militärdiktatur.

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Hier spricht die neue "Alcaldesa", die Bürgermeisterin von Santiago-Zentrum, Carolina Tohá.

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Jubel um Carolina Tohá.

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Diese Frau habe sich "wie eine Schlange ins Paradies" eingeschlichen, murrte Cristian Labbé, der 16 Jahre lang Bürgermeister der Kommune Providencia in Santiago de Chile war. Seine siegreiche Gegenkandidatin Josefa Errazuriz, die er vor kurzem noch "diese Hausfrau" nannte, habe ihn mit einer "Hasskampagne" um den Sieg gebracht. Labbé (64) kennt sich mit so etwas aus. Er war während der Militärdiktatur (1973-1989) hoher Offizier und Mitglied des berüchtigten Folter-Geheimdienstes DINA. Noch am Wahltag gingen seine Leibwächter mit Fäusten und Tritten auf Menschen los, die Labbé während der Stimmabgabe als "Mörder" beschimpft hatten.

Trotz seines bösen Rufs, der sich in letzter Zeit auch durch harte Polizeieinsätze gegen demonstrierende Studenten und Gedenkfeiern für überführte Folterer festigte, hatte der "letzte Pinochetist" (so das Satiremagazin "The Clinic") bisher immer die Wiederwahl geschafft. Hoher Werbeeinsatz und eine zersplitterte Opposition ließen die Meinungsforscher auch bei Chiles Kommunalwahlen von vergangenem Sonntag auf einen Sieg Labbés setzen.

Bündnis von Christdemokraten bis Kommunisten

Doch im Mai 2012 tauchte  aus dem politischen Nichts Josefa Errazuriz auf. Die 59-jährige Soziologin, die zuvor in Nachbarschaftskomitees aktiv war, versammelte mit der Ankündigung, in Providencia mit dem Aufbau eines anderen, sozialeren und politisch vielfältigen Chile zu beginnen, eine breite Koalition von Christdemokraten bis zu Kommunisten um sich. Mit 55 Prozent der abgegeben Stimmen zur "Alcaldesa", zur Bürgermeisterin  gewählt, erneuerte sie am Sonntagabend ihr Versprechen. Zwischendurch dämpfte sie die Begeisterung der durchaus bürgerlich wirkenden Menge, die ihre "Josefa" vor der Wahlzentrale feierten.

Sie erinnerte an ihren Ehemann, den Architekturprofessor Lorenzo Brugnoli, der vor wenigen Wochen während eines Spitalsaufenthalts gestorben ist. Am Wahlabend wurde die parteilose Bürgermeisterin noch aus New York  von Chiles sozialistischer Ex-Präsidentin Michelle Bachelet (2006-2010) angerufen und beglückwünscht. Die trotz schwacher Wahlbeteiligung erreichten Oppositionserfolge wie jene von Errazuriz steigern die Chancen Bachelets, die derzeit die UNO-Frauenorganisation leitet, im November 2013 wieder zur Präsidentin Chiles gewählt zu werden.

Vom Balkon gestürzt

Einen die Niederlage eingestehenden Anruf Labbés, dem starken Mann der ultrarechten Partei Unión Democrata Independiente (UDI), erhielt Errazuriz nicht. Pablo Zalaquett (49) ebenfalls von der UDI und bisher Bürgermeister in der Kommune Santiago Zentrum, rief seine sozialdemokratische Herausforderin Carolina Tohá (47) dagegen vor laufenden Fernsehkameras an und gratulierte ihr zum Sieg.

Ironischerweise war es in Chiles fast durchgehend rechtsgerichteter Presse in den Tagen vor der Wahl ein Hauptthema gewesen, welcher Minister mit Zalaquett nach dessen kaum zu gefährdenden Sieg auf dem Balkon des Stadtratsgebäudes stehen werde, um die Huldigungen der Anhänger entgegen zu nehmen. (Daran hätte man erkennen können, wen die Regierungsallianz aus Renovación Nacional (RN) und UDI  im November 2013 ins Rennen schicken werde, weil ihr Präsident Sebastián Piñera nicht noch einmal antreten darf.)

So weit, dass er nach seiner peinlichen Niederlage den Balkon seiner Gegnerin überlassen hätte, ging Zalaquett nicht. Tohá, die ein Doktorat in Politikwissenschaften hat und unter Bachelet Regierungssprecherin war, stand Sonntagabend, von einem Abstand haltenden Kreis von Anhängern umringt, in schlichter Bluse und gelbem Rock allein auf der Plaza de Armas. In der einen Hand ein Megafon haltend, in der anderen die chilenische Fahne schwingend, dankte sie ihren Anhängern und erwies vor allem den gegen das kostspielige Bildungssystem protestierenden Studenten ihre Reverenz. Dann erinnerte sie ein paar fast tränenerstickte Sätze lang an ihren Vater, den sozialistischen Politiker José Tohá, der 1974 unter der Militärdiktatur ermordet worden war. Sie wolle eine Alcaldesa für alle sein, "niemand soll ausgeschlossen werden", rief Carolina Tohá gleich danach der Menge zu, in der sich auch an den gesellschaftlichen Rand gedrängte arme Straßenverkäufer befanden.

An diesem Wahlsonntag war es mit den Überraschungen noch nicht vorbei. In der Kommune Ñuñoa wurde, nach stundenlangen Stimmzählungen und Überprüfungen, die Sozialistin Maya Fernández Allende zur knappen Siegerin über den bisherigen Bürgermeister Pedro Sabat  (RN) erklärt. Die 41-jährige Maya ist eine Enkelin des 1973 beim Militärputsch umgekommenen Präsidenten Salvador Allende, aufgewachsen ist die ausgebildete Veterinärin zum Teil auf Kuba.

Salvador Allende im Wählerverzeichnis

Der Name des von der Linken noch immer hoch und als Märtyrer verehrten Allende war schon am Sonntagmorgen auf einer Wählerliste in der Kommune Estación Central entdeckt worden. Da dort sein kompletter (und in dieser Form einmaliger) Name "Salvador Guillermo Allende Gossens" stand, war eine Verwechslung nicht möglich. Ein Sprecher der Wahlbehörde redete sich später auf einen "Computerfehler" aus. Nach dem neuen Wahlgesetz scheinen alle 13,4 Millionen über 18 Jahre alten (und nicht für tot erklärten) Bürger als wahlberechtigt auf. Das führte, wie berichtet, dazu, dass auch vom Geheimdienst verschleppte "Verschwundene" auf den Listen stehen, löst aber das Geheimnis um das Auftauchen von Allendes Namen nicht.

Zur "automatischen" Eintragung, durch die sich die Zahl der Wahlberechtigten seit 2008 um 1,5 Millionen erhöht hat, kommt die vom neuen Gesetz dekretierte "Freiwilligkeit" der Wahl. Im Vorfeld hatten Analysten vermutet, dass dies den Rechtsparteien nützen werde, weil eher links wählende Arme zu Hause bleiben würden und auch einige Studentenführer zur Wahlenthaltung aufriefen.  Doch es kam anders: Zwar verweigerten sich tatsächlich 55 Prozent der Berechtigten der Wahl, doch über alle 345 Kommunen Chiles gezählt, kam die Rechtsallianz nur auf 37,5, die Opposition dagegen auf 41,7 Prozent der abgegebenen Stimmen (Restliche Prozent: Kleinparteien und Unabhängige).

In Santiagos Kommune San Miguel kam der sozialistische Kandidat Julio Palestro gar auf 58 Prozent der Stimmen. Palestro, der nach dem Putsch Asyl in Österreich und dann in Schweden gefunden hatte, wurde damit nach seiner Rückkehr in Chiles Kommunalpolitik bereits zum dritten Mal wieder gewählt und am Wahlabend ausgiebig bejubelt.

Im ersten Anlauf gescheitert

Im Wahlkreis Estación Central ging ein politisches Experiment der Opposition im ersten Anlauf dagegen schief. Das "Concertación" genannte Bündnis aus Sozial- und Christdemokraten hatte auf eigene Kandidaten verzichtet, weil der Kommunist und Studentenführer Camilo Ballesteros größere Siegeschancen zu haben schien. Doch Ballesteros verlor mit 47,3 Prozent der Stimmen dann doch knapp gegen den UDI-Mann Rodrigo Delgado (48,4 Prozent).

Als weitere Überraschung hatte diese neuartige Zusammenarbeit mit den Kommunisten, die auch bei künftigen Parlamentswahlen erprobt werden könnte, in einer anderen Kommune Erfolg: In Recoleta gewann der KP-Mann Daniel Jadue gegen zwei Kandidaten der Rechten.

In einer Fernsehdiskussion der Parteichefs behauptete der UDI-Präsident Patricio Melero, dass die Oppositionserfolge einzig der KP (die im Landesschnitt bei fünf Prozent liegt) zu verdanken wären. Als er dann noch auf eigene Erfolge, etwa in der Hafenstadt Valparaíso, verwies, schnitt ihm Osvaldo Andrade, Vorsitzender der Sozialisten, das Wort ab: "Wollen Sie uns hier erzählen, dass die Rechte gewonnen hat?" Abseits vom Geplänkel der Parteifunktionäre machten sich Analysten in den Medien aber vor allem über die hohe Wahlenthaltung, besonders der Jungen, große Sorgen. Sie zeige, dass für einen großen Teil der Chilenen, die der Wunsch nach einer anderen,  nicht neoliberalen Entwicklung bewegt, die Parteien noch keine überzeugende Antwort haben. (Erhard Stackl, derStandard.at, 29.10.2012)