Einmal Protestschild, einmal Sitzstreik - das Kiasma-Museum in Helsinki inspiriert zum zivilen Ungehorsam. Noch sind die Finnen weit davon entfernt.

Foto: DER STANDARD/Julia Herrnböck

Suvi Lahtonen (32) sorgt sich um Europa.

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Helsinki - Immer sei sie der "Party-Pooper", der Spielverderber, wenn sie mit Freunden über die Zukunft diskutieren will. Suvi Lahtonen, 32-jährige Lehrerin, ist eine ernste junge Frau. Es sorgt sie, was in ihrem Land und in ganz Europa passiert. Sie selbst ist seit Jahren Jobhopper, immer mit Befristung. Es sei schwierig geworden für Menschen in ihrem Alter, eine fixe Stelle zu bekommen. Derzeit unterrichtet sie an einer Privatschule in einem "noblen Vorort" von Helsinki. Die Schüler seien smart, stellten mehr Fragen als ihre eigene Generation.

Aber die Gruppe der "lost generation" wächst auch im Pisa-Vorzeigeland mit knapp 5,5 Millionen Einwohnern, davor schützt selbst das begehrte Triple-A-Rating von Moody's nicht. Lahtonen spricht von der "unsichtbaren Jugend", rund 100.000 sind es bereits, die in Finnland ohne Job und Ausbildung leben. "Keiner nimmt sie wahr", sagt Lahtonen. In Österreich sind es rund 75.000, in der ganzen EU etwa 14 Millionen. Die europäische Behörde Eurofound schätzt die wirtschaftlichen Verluste allein 2011 auf 154 Milliarden Euro. Ganz zu schweigen von den sozialen und strukturellen Problemen, die mit dieser Entwicklung einhergehen.

Es gärt unter der Oberfläche

Klassische Institutionen und Parteien geraten angesichts der wirtschaftlichen und demografischen Realität unter Druck. Korruptionsskandale nagen obendrein an der Glaubwürdigkeit der Politiker. Im Rahmen des EU-Projektes Eurotours sind 27 österreichische Journalisten in ganz Europa unterwegs, um das Thema Demokratiekrise aufzugreifen.

"Früher oder später werden wir einen europäischen Frühling erleben", ist sich Taneli Heikka sicher. Der Blogger hat 2009 das Buch Quasi Democracy in Finnland veröffentlicht. "Oberflächlich betrachtet leben wir in stabilen Demokratien, aber in Wahrheit haben die Bürger keine Mitsprachemöglichkeiten. Wir bekommen von den Eliten getroffene Entscheidungen serviert", beklagt der ehemalige Journalist. Ein "Good old boys"-Netzwerk sei die Politik, zumindest in Finnland. Die geringe Wahlbeteiligung von maximal 65 Prozent sei Ausdruck dieser Resignation. " Die Parteien sind sich zu ähnlich, zu konsensorientiert - am Ende gibt es immer eine Koalition, egal, wem man die Stimme gibt." Alles Weitere passiere hinter verschlossenen Türen.

Die steigende Zahl arbeitsloser Jugendlicher beunruhige ihn sehr. "Das sind abertausende Menschen, die das Gefühl haben, nicht mitbestimmen zu können und nicht Teil dieser Gesellschaft zu sein", sagt Heikka. Er hat sich mit einer Plattform selbstständig gemacht, die Bürgerinitiativen vernetzt, etwa bei der gemeinsamen Gestaltung einer neuen Wohnsiedlung. "Die Politiker glauben alle, dass der Wandel auf Facebook stattfindet. Aber es ist ganz einfach: Das politische System hat dermaßen an Glaubwürdigkeit eingebüßt, dass die Menschen jetzt versuchen, sich selbst zu organisieren."

Lange Zeit gab es kaum nennenswerte Politskandale in Finnland. 2007 poppte ein Finanzbetrug auf, den Ministerpräsident Matti Vanhanen 2010 mit Rücktritt quittierte, offiziell aus gesundheitlichen Gründen. Geld für ein Wohnbauprojekt verschwand in fremden Taschen. "Vanhanen hat diese Eliten-Kultur geprägt", meint Heikka. Seither sind einige andere Fälle von Korruption ans Licht gekommen. "In den Köpfen der Menschen hat das etwas verändert, das war wichtig."

Protestaufruf im Museum

Das Kiasma, Helsinkis Museum für Zeitgenössische Kunst, widmete sich im September der Protestkultur. "Ich bin so wütend, ich setze ein Zeichen", steht doppeldeutig auf einer weißen Platte, die mit ein paar Handgriffen zu einem Sessel umfunktioniert werden kann. T-Shirts, in Faustform gepresst, kann der Besucher für einen Euro auf ein US-Dollar-Symbol schmeißen, für 20 Euro darf er es danach mit nach Hause nehmen. Eine sanfte Einstiegsanimation für die sanftmütigen Finnen sozusagen.

Von einer Revolution sind sie noch weit entfernt; im Gegensatz zu den Griechen oder den Spaniern geht es ihnen hervorragend. Dennoch: Psychische Krankheiten wie Depression oder Schizophrenie nehmen stark zu, vor allem unter den Jungen. "Die Menschen mögen es nicht, nur als Masse regiert zu werden", ist Lahtonens Erklärung. Für sie ist der Stillstand im System die größte Gefahr für das Friedensprojekt Europa. " Wir brauchen realistische Prognosen, was passiert mit den Pensionen, dem Wohlfahrtsstaat?"

Die Rechtspopulisten "Wahre Finnen" haben die Parteienlandschaft verändert. "Ihr Aufstieg war ein Ausbruch der politischen Unzufriedenheit", sagt Hannu Nieminen, Medienprofessor an der Universität in Helsinki. Die von den "Wahren Finnen" strapazierte Einwanderung sei weder eine ökonomische noch eine gesellschaftlich relevante Größe. "Aber es hat das Klima maßgeblich beeinflusst."

Diese wachsende Ungleichheit und der latente Rassismus, der mit den " Wahren Finnen" Einzug gehalten hat, ängstige sie, sagt Tarja Monto von Familie Club, einer Integrationsinitiative. "Traditionell gesehen haben wir uns alle gleich gefühlt." Das ändere sich: "Es wird rauer."

Suvi Lahtonen will nicht nostalgisch in die Vergangenheit blicken. "Die Dinge haben sich verändert. Wir müssen uns in Europa fragen, welche Gesellschaft wir sein wollen." (Julia Herrnböck, DER STANDARD, 30.10.2012)