Pekka Haavisto: "Es ist ein europäisches Phänomen, dass wir die Jungen aus dem System fallen lassen."

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STANDARD: Trotz der wirtschaftlich stabilen Lage Finnlands ist fast ein Viertel der unter 25-Jährigen arbeitslos. Warum steht das Problem nicht stärker im Vordergrund?

Haavisto: Es brodelt gewaltig. In Finnland ist die Arbeitslosigkeit vor allem ein regionales Problem. Spannend ist, dass sich die jungen Frauen weiterbilden und in den Süden gehen. Die Männer hingegen bleiben zurück und warten.

STANDARD: Ist diese Passivität eine typisch finnische Reaktion?

Haavisto: Wir haben hier 100.000 junge Menschen ohne Ausbildung, ohne Jobs, ohne Perspektive. Es ist ein europäisches Phänomen, dass wir die Jungen aus dem System fallen lassen.

STANDARD: Wird in Finnland öffentlich darüber diskutiert?

Haavisto: Wir haben eine öffentliche Debatte, aber wir reden nicht immer über die echten Probleme. Auf meiner Wahlkampftour haben mich viele Jugendliche angesprochen, dass ihnen die Älteren nicht zuhören. Letztes Jahr hat ein 18-Jähriger einen anderen erstochen. Im Nachhinein haben das alle kommen sehen, doch keiner der Erwachsenen hat etwas unternommen. Es ist ein anschauliches Beispiel für den Zustand unserer Gesellschaft: sich nicht einzumischen, keine größer gedachte Verantwortung zu empfinden - Finnland ist da keine Ausnahme.

STANDARD: Wie solidarisch sind die Finnen?

Haavisto: Im historischen Kontext, etwa bei unserer traumatischen Vergangenheit mit Russland, halten wir zusammen. Bei vielen anderen Themen mischen wir uns nicht ein. Diese Mentalität, dass jeder für sich selbst Sorge trägt, hat böse Nebeneffekte.

STANDARD: Was denken Sie über die junge Generation? Ist sie politisch aktiv genug?

Haavisto: Früher hätte ich gesagt: Nein. Seit meiner Präsidenschaftskandidatur sehe ich es anders.

STANDARD: Wie stark ist der Glaube an demokratische Institutionen?

Haavisto: Wir haben tolle Werte bei den Anti-Korruptions-Indexen, aber die Leute lesen Nachrichten und wissen, dass die Realität eine andere ist. Ich habe nicht das Gefühl, dass wir in einer Demokratiekrise stecken. Die Stimmung gegen Ausländer hat sich in den "Wahren Finnen" politisch kanalisiert. Auch wenn ich deren Meinung nicht teile - diese Entwicklung war gut für unser Demokratiebewusstsein.

STANDARD: Sind Sie besorgt über die "Wahren Finnen"?

Haavisto: Es war schwierig, mit dieser aggressiven und rassistischen Politik umgehen zu lernen. Aber wir haben es überlebt. Mit der wirtschaftlichen Lage in Europa haben rechte Parteien im Moment Konjunktur.

STANDARD: Was würde in Finnland zu einer Revolution führen?

Haavisto: Es gibt viele Menschen, die ihre wirtschaftlichen Tätigkeiten reduzieren wollen, um über mehr freie Zeit zu verfügen. Das ist schon eine Art Revolution. Ich habe die Occupy-Aktivisten letzten Winter besucht und gefragt, wie lange sie bleiben wollen. "Bis der Kapitalismus fällt", haben sie geantwortet. Das ist unrealistisch, aber jetzt hört man ihnen wenigstens zu. Wir müssen die Wirtschaft auf ihren Platz verweisen.

STANDARD: Was sorgt Sie, wenn Sie an Finnlands Zukunft denken?

Haavisto: Die zunehmende Marginalisierung, die Arbeitslosigkeit, die vielen tausend Menschen, die einfach aus der Gesellschaft purzeln und die keiner zurückholt. Das Gefühl, Teil der Gesellschaft zu sein, geht vielerorts verloren.

STANDARD: Was halten Sie von der lauter werdenden Idee finnischer Politiker, den Euro zu verlassen?

Haavisto: Die Gefahr besteht, dass wir über die finanziellen Strapazen den Blick für das politische Projekt EU verlieren. Die Menschen haben den Bezug dazu verloren. Viele Finnen verstehen nicht, warum Länder wie Rumänien oder Bulgarien aufgenommen wurden. Sie denken nur noch in ökonomischen Größen. (Julia Herrnböck, DER STANDARD, 30.10.2012)