In acht Tagen treten in Peking 2270 Delegierte in Vertretung von 82,6 Millionen Mitgliedern zusammen, um eine neue Führung der größten Kommunistischen Partei der Welt zu wählen. Am Vorabend des Parteitages kann das bevölkerungsreichste Land der Erde mit beispiellosen Wirtschaftserfolgen aufwarten: Seit dreißig Jahren wächst die Wirtschaft um zehn Prozent jährlich; allein in den letzten zehn Jahren hat sich die Wirtschaftsleistung vervierfacht.

Trotzdem hatte der seit zehn Jahren amtierende Ministerpräsident Wen Jiabao auf dem Nationalkongress im März vor den Gefahren einer neuen Kulturrevolution gewarnt. Der bescheiden wirkende, umgängliche Mann, der aus Altersgründen im Frühjahr zurücktreten soll, beschäftigte sich mit der hemmungslosen Gier im Dunstkreis der Macht: "Die Korruption ist die größte Bedrohung für die regierende Partei. Sie kann die politischen Fundamente unseres Landes komplett unterspülen." Bald danach erfolgte der jähe Sturz des mächtigen Wortführers der Linkspopulisten Bo Xilai, dessen Frau dann wegen der Ermordung eines britischen Geschäftsmannes zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Er selbst soll wegen Amtsmissbrauchs und Bestechung bald auch vor Gericht gestellt werden.

Nun schlug dieser Tage aber ein Bericht der New York Times wie eine Bombe in die chinesische Politik ein: Die Familie des unter der Maske des Kämpfers gegen die Korruption auftretenden Regierungschefs hat in den Jahren seiner Amtszeit ein Vermögen von 2,7 Milliarden Dollar angehäuft. Selbst die jetzt 90 Jahre alte Mutter Wen Jiabaos soll über eine andere Investitionsfirma vor fünf Jahren eine Investition von 120 Millionen Dollar getätigt haben. Auch seine Frau, sein Bruder, sein Sohn und sein Schwager hatten Anteile an Banken und Telekommunikationsunternehmen, an Versicherungen und im Tourismus erworben.

Wen ist freilich kein Einzelfall. Die Familie des designierten künftigen Parteichefs Xi Jinping verfügt auch über ein beachtliches Vermögen. Das hatte die Nachrichtenagentur Bloomberg schon im Sommer berichtet. Seitdem sind die Websites der Agentur in China ebenso blockiert wie jetzt die Online-Ausgabe der New York Times. Der bevorstehende Machtwechsel in Partei und Staat wird von den hinter den Kulissen tobenden Kämpfen zwischen den diversen Gruppen überschattet. Laut einem Gewährsmann der New York Times wurden die kompromittierenden Informationen von sogenannten "konservativen Fraktionen" an ausländische Medien gestreut.

Während jeder vierte Chinese mit zwei Dollar am Tag auskommen muss, bestätigte vor einigen Monaten ein spektakulärer, nächtlicher, tödlicher Unfall mit einem Ferrari in Peking die Bemerkungen eines früheren Ministers, es gebe niemanden in der Machtelite, der nicht ebenfalls in krumme Geschäfte verwickelt sei. Der tödlich verunglückte nackte Fahrer des sündteueren Luxusautos war der 23-jährige Sohn des Leiters des Sekretariats des Parteichefs und wurde von zwei jungen Frauen begleitet, die schwer verwundet wurden.

Die ausufernde Korruption führt zu einer Legitimationskrise. Ökonomen warnen bereits trotz der größten Devisenreserven der Welt in internen Berichten an die Führung vor sozialen Umwälzungen. (Paul Lendvai, DER STANDARD, 30.10.2012)