
David Bloor fand heraus, dass auch der Erfinder der Concorde-Flügel Relativist war.
Bei Päpsten ist der Relativismus schlecht angeschrieben – kein Wunder, möchten sie doch als absolut unfehlbar gelten. Entsprechend warnte Papst Benedikt XVI. vor einigen Jahren vor der "Diktatur des Relativismus, die nichts als definitiv anerkennt". Neben dem moralischen Relativismus, den Josef Ratzinger da anprangert, gibt es auch noch den wissenschaftlichen Relativismus.
Gegen den machte sich zuletzt etwa der britische Evolutionsbiologe Richard Dawkins stark, der unheilige "Papst der Atheisten": "Zeigen Sie mir in 10.000 Meter Höhe einen Relativisten, und ich zeige Ihnen einen Heuchler", meinte Dawkins einmal. Anders gesagt: Dass Flugzeuge fliegen, sei die beste Widerlegung von Relativisten, die davon ausgehen, dass die Wahrheit von Aussagen oder Theorien immer nur bedingt sei.
David Bloor, Wissenschaftsforscher aus Schottland und zurzeit Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) in Wien, hat wenig Päpstlich-Autoritäres an sich, wenn er im Interview mit dem STANDARD über Dawkins oder Ratzinger spricht. Und doch könnte man den höflich-zurückhaltenden Schnurrbartträger ohne weiteres als den Vordenker des Relativismus in der jüngeren Wissenschaftsphilosophie und Wissenschaftssoziologie bezeichnen.
In den 1970er-Jahren begründete Bloor sogar eine Denkschule mit: Dieser Zirkel nennt sich "Edinburgh School" und dachte damals unter anderem die Arbeiten von Thomas Kuhn weiter, dessen einflussreiches Buch Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen vor genau 50 Jahren erschien. Zumindest in einer relativistischen Lesart legt Kuhns Klassiker nahe, dass wissenschaftliche Erkenntnisse nicht nur einfach durch die "Natur" bedingt sind, sondern dass auch soziale Faktoren eine wichtige Rolle beim Zustandekommen spielen.
Bloors "starkes Programm"
Aber welche gesellschaftlichen Einflüsse sind das? Und wie tun sie das? Bloor hatte da einige Ideen, die er als "Strong Programme" des Relativismus ausformulierte, das eine Art Gebrauchsanleitung für die Analyse wissenschaftlichen Wissens darstellt. Unter anderem soll man bei solchen Analysen möglichst unvoreingenommen sein im Hinblick auf Wahrheit und Falschheit der Erkenntnisse und dafür vor allem soziologische Erklärungen liefern – was Bloor und seinen Kollegen in einigen oft zitierten Fallstudien auch tatsächlich gelang.
Wenn sich dieser Ansatz in der Wissenschaftsphilosophie nicht wirklich durchsetzte, so ist für Bloor doch erstaunlich, wie viele Naturwissenschafter und wie wenige Philosophen als Relativisten gelten. Einer war der österreichische Physiker, Mathematiker und Philosoph Philipp Frank, der auf Albert Einsteins Empfehlung 1912 dessen Nachfolger an der Universität in Prag wurde. Neben vielen anderen Dingen (unter anderen einer Biografie über Einstein) verfasste Frank 1952 ein Büchlein unter dem Titel Wahrheit – relativ oder absolut? Diesem relativistischen Werk wird Bloor nächste Woche einen Vortrag widmen und Franks Sicht mit der von Karl Popper kontrastieren.
Das jüngste Buch des 70-Jährigen handelt von etwas scheinbar ganz anderem: Unter dem Titel The Enigma of the Aerofoil hat er im Vorjahr eine gut 600-seitige Geschichte der Debatte um das aerodynamische Wirkprinzip von Flügeln vorgelegt, bei der sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Wesentlichen zwei Erklärungsmodelle gegenüberstehen: ein britisches und ein deutsches. Die Frage ist bis heute nicht restlos geklärt.
Einer der Helden in Bloors detailreicher Rekonstruktion im Sinne des Strong Programme ist dabei Dietrich Küchemann, ein deutsch-britischer Ingenieur. Der entwarf die Flügel der Concorde – und war durch und durch Relativist, wie Bloor versichert. Damit sei klar: "Auch auf 10.000 Metern kann man ganz ohne Heuchelei Relativist sein." (Klaus Taschwer, DER STANDARD, 31.10.2012)