Wien - Es ist das Youtube-Video einer 15-jährigen Schülerin und gleichzeitig ihr Abschiedsbrief: "Jeden Tag denke ich mir: Warum bin ich noch hier?", steht auf einer der Karteikarten geschrieben, die die Kanadierin Amanda Todd in die Webcam hält. Sie erzählen, wie ein unbedacht im Internet veröffentlichtes Nacktfoto ihr Leben zur Hölle macht. Trotz mehrmaligen Schulwechsels hören die beleidigenden Kommentare im Internet nicht auf, immer wieder holt die Vergangenheit sie ein. Amanda bekommt Panikattacken und Depressionen, flüchtet sich in Alkohol und Drogen. Sie wurde Opfer von Cyber-Mobbing.

Im Vergleich zur Offline-Variante ist Cyber-Mobbing noch grausamer: Durch das Internet verbreiten sich Beleidigungen schnell wie ein Strohfeuer und machen auch vor den eigenen vier Wänden des Opfers nicht halt. Durch Smartphone und Laptop trägt es seinen Täter quasi rund um die Uhr bei sich. Die Flucht an einen sicheren Ort ist unmöglich, denn Cyber-Mobbing ist zeit- und ortsungebunden. Doch was veranlasst die meist jugendlichen Täter dazu, andere bloßzustellen und dabei Lust zu empfinden?

Einige Täter fühlen sich unterlegen und mobben aus dem Bedürfnis nach Beachtung, andere hingegen sind Narzissten, in sozialen Gruppen meist hoch angesehen, die ihre Macht demonstrieren wollen. Was alle Täter gemein haben: Sie erniedrigen andere, um sich selber besser zu fühlen. Laut einer Studie unter neun- bis 16-jährigen Schülern aus 26 EU-Ländern haben rund 60 Prozent der Täter die Opferrolle selbst einmal erlebt. Meist empfinden sie wenig Empathie für den Geschädigten, da sie ihm nicht von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Sie können die Folgen ihres Handelns oft nicht einschätzen. Zudem senkt die Anonymität im Internet die Hemmschwelle.

Das Internet vergisst nicht

Im Gegensatz zum stark männlich dominierten Offline-Mobbing gibt es beim Cyber-Mobbing ebenso viele weibliche Täter. Jungen mobben dabei meist offensiver, benützen etwa vermehrt bloßstellende Bilder.

Die Redewendung "Was liegt, das pickt!" umschreibt die Gefahren des Cyber-Mobbings: Etwas einmal im Internet Erschienenes ist nicht mehr restlos zu entfernen. Ebenfalls lässt sich nicht kontrollieren, wie viele Leute ein Inhalt schlussendlich erreicht.

Während physische Gewalt von Gesellschaft und Medien zunehmend verurteilt wird, ist das Bewusstsein für digitale "Angriffe" noch wenig ausgeprägt. Was für tragische Konsequenzen Cyber-Mobbing auf die "reale Welt" haben kann, zeigt der Fall von Amanda Todd: Einen Monat nach Veröffentlichung ihres Youtube-Videos nahm sie sich das Leben. (Christina Trubel, DER STANDARD, 31.1.20.2012)