Spielt Soul und Funk aus der hohen Zeit der Kassetten: Cody Chesnutt.

Foto: Jessica Long

Cody Chesnutt wird als Genius gehandelt. Doch immer wenn jemanden der Genieverdacht umweht, ist Skepsis angesagt. Verantwortlich für derlei Einschätzung war sein Debütalbum The Headphone Masterpiece. Vor zehn Jahren ist das erschienen. Nicht nur im Titel wurde da bereits vom Meisterwerk halluziniert, die Neigungsgruppe aus dem Hip-Hop übernahm diese Zuschreibung ohne nachzudenken. Zugegeben: Schlecht war anders, doch nicht alle der über 40 Songs - manche davon waren nicht mehr als Miniaturen - verdienen es, mit einem Superlativ bedacht zu werden. Der große Rest verströmte bestenfalls den Charme des Lo-Fi, den zu Hause unter der Decke aufgenommene Songs manchmal haben. Aber hey, this is pop, und zumindest ein Song stützt die Meisterwerkbehauptung: The Seed.

Der infizierende Song bestand aus einer seltsamen Mischung aus Soul, Funk und Rock, die schließlich als Hip-Hop verkauft wurde, nachdem The Roots den Song mit Chesnutt coverten und damit einen Hit landete, der rund um den Globus aus den Radios ertönte. 2003 war das, und seitdem ist Cody Chesnutt eher auf der faulen Haut gelegen und hat sich am monatlichen Tantiemenscheck erfreut. Zumindest legen seine spärlichen musikalischen Lebenszeichen diese Vermutung nahe. Außer ein paar Singles und einem Zwergenalbum hat der in Kalifornien lebende Musiker nichts veröffentlicht.

Doch auch die längsten Schaffenspausen gehen vorbei, nun veröffentlicht Chesnutt das Album Landing on a Hundred. Wollte man vom Album des Jahres sprechen, man müsste zuerst im Kalender nachblättern, von welchem Jahr wir reden. Denn Chesnutt hat ein Soulalbum aufgenommen. Eines jener Werke, die unsereins gerne mit dem Prädikat "klassisch" festnagelt. Das bedeutet, es klingt, als wäre es damals entstanden, als diese Musik ihre hohe Zeit erlebt hat. Chesnutt hat einiges dafür getan, um sich dieses "klassisch" zu verdienen.

Zur Herstellung einer dafür günstigen Aura ist er nach Memphis gereist und hat sich im Royal Studio eingemietet. Das Familienunternehmen an der Peripherie von Memphis hat der 2010 verstorbene Willie Mitchell in den 1950ern gegründet, als von Memphis aus die Populärmusik zur Welteroberung aufbrach. Mitchell war damals ein bekannter und gefragter Bandleader, den sogar Elvis Presley für private Partys buchte. In die Erinnerung eingeschrieben hat er sich jedoch als Entdecker von Al Green, als Produzent von O. V. Wright, Syl Johnson und anderen Southern-Soul-Giganten.

Doch Chesnutt biegt auf Landing on a Hundred nicht in die Southern-Soul-Richtung. Zwar singt er durch Mikrofone, die Mitchell einst für Al Green ausgesucht hat, doch die Resultate erinnern mehr an Marvin Gaye in den 1970ern, und auch Innervisions (1973) von Stevie Wonder dürfte Chesnutt mehr als einmal gehört haben. Zumindest legen das Songs wie Under the Spell of the Handout oder Chips Down (in no Landfill) nahe, die den (unerreichten) Funk von Wonders Higher Ground beschwören.

Das sind Songs weiter hinten auf dem Album. Und auch wenn Chesnutt schon mit I've Been Life früh kleine Meisterwerke setzt, kommt er erst in der zweiten Hälfte wirklich in Fahrt. Davor klingt er mitunter nach Michael Franti und dessen Weltverbesserer-Funk. Ungeachtet solchen Briefmarkensammler-Lateins - ein scharfes Soul- und Funk-Album ohne wesentliche Abstriche. (Karl Fluch, Rondo, DER STANDARD, 2.11.2012)

Hören Sie hier das neue Album von Cody Chesnutt im Spotify-Stream: