Eine Liebesgeschichte im kolonisierten Afrika der 1960er-Jahre, die wie die Ära selbst ihrem Ende entgegensieht: Miguel Gomes' "Tabu" erzählt sie auf grobkörnigem Schwarz-Weiß-Film. 

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Regisseur Miguel Gomes: "Zentrales Motiv ist Erinnerung."

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Dominik Kamalzadeh erklärte er, was er an verschwundenen Dingen findet.

STANDARD: "Tabu" handelt von vielen Dingen zugleich: dem Ende des Kolonialismus, einer unglücklichen Liebe, dem Stummfilmkino. Gab es ein konkretes Motiv, vom dem Sie ausgegangen sind?

Miguel Gomes: Nein, ich habe kein klares Konzept oder Thema gehabt, das ich rational verfolgt habe. Wenn ich einen Film mache, ist das ein sehr organischer Prozess. In diesem Fall begann es mit einer Geschichte, die mir erzählt wurde, an der mich bestimmte Charaktere interessiert haben. Eigentlich mache ich meine Filme wie ein Sammler, ich klaube Dinge auf, und irgendwann beginnen die Dinge sich dann aufeinander zu beziehen. Jetzt, wo der Film fertiggestellt ist, denke ich, das zentrale Motiv ist Erinnerung: Es geht um Dinge, die entweder schon verschwunden sind oder die gerade dabei sind zu verschwinden. Der Wechsel vom ersten zum zweiten Teil des Films passiert zum Beispiel, als jemand stirbt. Eine weitere Figur tritt auf, sie führt zur nicht mehr vorhandenen Gesellschaft einer portugiesischen Kolonie in Afrika. Ich habe auch nach einem Dialog mit einem ausgelöschten Kino gesucht ...

STANDARD: Das war meine nächste Frage ...

Gomes: Ja, ich wollte das mit analogem Material machen, denn das ist gerade dabei, zu verschwinden, in 35 mm und Schwarz-Weiß - Kodak hat kurz danach seinen Bankrott erklärt. Ich dachte stets, dass dies mein letzter Film auf Film sein würde. Für Schwarz-Weiß entschied ich mich aus zwei Gründen: Es ging mir nicht darum, stylish zu sein, sondern eben um die Materialität. Solchen Film belichten zu lassen ist sehr schwierig geworden. Auch dahingehend ging es um Erinnerung: Der Film hat etwas von einer Geisterbeschwörung.

STANDARD: Im Unterschied zu "The Artist" vermeiden Sie es, eine vergangene Ästhetik zu imitieren. Wie haben Sie zu diesem unreinen Stil gefunden?

Gomes: Ich glaube nicht daran, dass man im Jahr 2012 so tun kann, als ob man im Jahr 1927 wäre. Ich wollte kein Pastiche herstellen. Um zu etwas zurückzugelangen, muss man etwas Neues konstruieren - in diesem Fall entschied ich mich dafür, eine Geschichte zu erzählen, in der die Dialoge keine Rolle spielen; es gibt allerdings ein Voice-over, also befindet man sich immer noch in einem Tonfilm. Es gibt Geräusche - wir haben in Afrika den Ton der Bewegung von Menschen aufgenommen. Das traf sich gut mit meinem Begehren, einen Geisterfilm zu machen. Ich wollte eine Sensation herstellen, die sich beim Erinnern einstellt.

STANDARD: Die beiden Teile des Films sind zwar getrennte Einheiten, aber es finden sich etliche Querverweise. Wie sind Sie bei der Konstruktion der Geschichten vorgegangen?

Gomes: Ich wollte nicht zu viel von Auroras Vergangenheit erzählen. Im zweiten Teil, dem in Afrika, ist sie jung. Im ersten, der später spielt, ist sie eine Frau, die auch komische Momente hat. Sie benimmt sich exzentrisch, sie muss mit einer sehr vagen, unkonkreten Schuld umgehen. Deshalb habe ich mich auch für eine andere Figur, für Pilar, entschieden, die sich mit der Schuld von anderen auseinandersetzt. Der erste Teil ist wie ein Hangover; der zweite Teil ist jener, in dem getrunken wird - es ist aber so, dass das Gefühl des Hangovers nicht verlorengeht, wenn man zum Trinken kommt. Die Geschichte wird von einem alten Mann erzählt, es gibt darin viel Nostalgie, das Gefühl, dass etwas für immer vorbei ist, selbst wenn man noch Leute sieht, die exzessive Dinge tun. Ich wollte, dass diese Lebenslust durch das Gefühl von Verlust kontaminiert wird.

STANDARD: Worauf Sie sich so großartig verstehen, ist, Pathos und Komödie nebeneinander wirken zu lassen: Sie bekämpfen sich nicht ...

Gomes: ... das kommt auch aus dem Leben. Wenn der Titel des zweiten Teils, "Paradies", erscheint, sieht man Aurora aus ihrem Haus joggen und die schwarzen Diener den Boden wischen. Es ist also ein sehr ironisches Paradies, vielleicht nur das von Aurora. Man kann immer unterschiedliche Dinge zu selben Zeit empfinden. Ich glaube, ein Film beginnt erst interessant zu sein, wenn diese Elemente vermischt werden, Pathos neben Komik steht. Es gefällt mir, sehr emotional zu sein und zugleich eine kritische Distanz einzunehmen. Es gibt sehr viele Filme in der Geschichte des Kinos, die so operieren.

STANDARD: "Tabu" - der Titel ist auch eine Referenz auf den gleichnamigen Film von Murnau und Flaherty von 1931.

Gomes: Murnau und Flaherty, das ist auch wie Pathos und Komik.

STANDARD: Ich wollte eigentlich auf die ethnografische Qualität von " Tabu" hinaus - die Geschichte Afrikas läuft in Ihrem Film im Hintergrund mit ... Wie sehr hat Sie Politisches bewegt?

Gomes: Ich habe versucht, alle historischen und soziologischen Aspekte zu vermeiden, auch wenn der Zeitpunkt, die 60er-Jahre einer portugiesischen Kolonie in Afrika, klar ist. Die Unabhängigkeit der Kolonien nach der Nelkenrevolution 1974 - das ist alles noch sehr nahe. Wenn man von der Kolonialgeschichte im Kino oder in Büchern erzählt, dann wird es schnell eng, es handelt sich um sensible Materie. Die Filme tendieren oft dazu, etwas Exemplarisches zu bekommen. Sie degradieren die Figuren zu Ideen. Ich habe keine biografische Verbindung zu dieser Zeit und versuche mich ihr daher imaginär anzunähern.

STANDARD: Wie offen wird darüber in Portugal diskutiert?

Gomes: Es ist besser geworden, man kann darüber sprechen. Aber es ist immer noch ein Thema, das Emotionen weckt. Es löst Schamgefühle aus oder Nostalgie. Das Thema wurde noch nicht bewältigt. Mir ging es darum, es nicht zu vereinfachen, ich habe einen kritischen Blick darauf, der eben auch Komik miteinschließt. Ich wollte nach Afrika über die Erinnerung an Filme gelangen, weil ich die Gesellschaft von damals nicht kannte. Meine Mutter wurde zwar noch in Angola geboren, aber sie ist sehr jung nach Lissabon gekommen. Ich habe die zweiteilige Struktur auch deshalb gewählt, um den Unterschied der Lebensalter zu betonen. Aurora hat in einer Gesellschaft gelebt, die verschwunden ist - selbst wenn man diese Zeit politisch kritisiert, kann man dazu eine emotionale Verbindung haben.

STANDARD: Gibt es deshalb die Anbindung an das Genre des romantischen Abenteuerfilms - eine Liebesgeschichte im exotischen Exil?

Gomes: Ja, es gibt natürlich bestimmte Codes, die man erkennen kann. Ich verwende sie, mache sie aber dysfunktional. Es beginnt so wie bei Jenseits von Afrika, mit dem Satz, "Sie hatte eine Farm in Afrika", aber dann sind es eben nicht Robert Redford und Meryl Streep. Aurora ist schwanger von ihrem Ehemann - es handelt sich also um eine sehr beeinträchtigte Liebesgeschichte. Es gibt das Krokodil, das die beiden verbindet - das alles ist sehr künstlich. Es ist so dysfunktional wie eine portugiesische Kolonie in den 60er-Jahren: Alle anderen Länder, die Kolonien hatten, haben diese zu diesem Zeitpunkt schon aufgegeben. Ich zeige weiße Leute, die Liebe machen, schnelle Autos fahren, sich töten, Partys feiern, aber es kommt alles an sein Ende. Es gibt eine Parallele zwischen diesem künstlichen Zustand und dem Umstand, dass diese Gesellschaft mit Gewalt gestürzt werden wird. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 3./4.11.2012)