"Parteien sind keine moralische Instanz": Michael Philipp

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STANDARD: Korruptionsskandale, ein von den Regierungsparteien abgedrehter Untersuchungsausschuss, staatsanwaltschaftliche Ermittlungen gegen einen Staats sekretär, zwei Minister und den Kanzler - könnten Rücktritte da Reparatur leisten?

Philipp: Was Sie aufzählen, ist sehr massiv, da müsste wahrscheinlich eine ganze Rosskur erfolgen. Grundsätzlich dienen politische Rücktritte der Korrektur, um Verfehlungen von Politikern oder Fehlentwicklungen in der Politik mit einem radikalen Schnitt zu kurieren. Insofern wären Rücktritte auch hier ein geeignetes Instrument.

STANDARD: Ab wann ist denn ein Rücktritt unumgänglich?

Philipp:  Konsens herrscht in Deutschland lediglich über strafrechtliche Verfehlungen: Spätestens, wenn staatsanwaltschaftliche Ermittlungen zu einer Klageerhebung führen, ist das ein absoluter Rücktrittsgrund. Ansonsten gibt es keinen allgemeingültigen Maßstab. Denn dieselbe Verfehlung kann in einem Fall zum Rücktritt führen, im anderen nicht. Das hängt zum Beispiel davon ab, ob in der Partei ein geeigneter Nachfolger vorhanden ist oder ob eine Wahl bevorsteht. Am Anfang einer Legislaturperiode treten weniger Politiker zurück als gegen Ende, weil die Partei davon ausgehen kann, dass in zwei, drei Jahren der Fall vergessen sein wird.

STANDARD: Also haben Rücktritte mehr politikstrategische als moralische Hintergründe?

Philipp: Die Entscheidung über einen Rücktritt fällt die eigene Partei, und die ist ein Interessenverband und keine moralische Instanz. Sie urteilt nach der Frage, ob das Festhalten an der Person bei der nächsten Wahl schadet oder nicht. Im Allgemeinen sind es die Medien, die moralische oder rechtliche Standards einklagen. In der Debatte um einen Rücktritt verständigt sich dann die Gesellschaft über die Gründe. Ist etwas nicht skandalfähig, sind die moralischen Standards durch ein Verhalten eben nicht oder nicht mehr beeinträchtigt. Homosexualität oder ein außereheliches Kind eines Ministers hätten vor zwanzig, dreißig Jahren beispielsweise zwingend zu einem Rücktritt geführt, heute sind das keinesfalls mehr Gründe.

STANDARD:  Würde ein Direktwahlrecht zu schnelleren Rücktritten führen, weil eine größere persönliche Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit und weniger gegenüber der Partei bestünde?

Philipp:  Das wäre möglich, wenn sich umsetzen ließe, dass die Parteien derart in der politischen Bedeutung nachlassen. Unter den momentanen Umständen kann ich mir das aber kaum vorstellen.

STANDARD: Großbritannien hat ein Mehrheitswahlrecht und eine lebendigere Rücktrittskultur.

Philipp: In Großbritannien liegt das eher daran, dass Politiker mit Skandalen anders umgehen. Sie treten leichter zurück, weil sie eine andere Einstellung dazu haben. In Deutschland und Österreich haben viele Politiker das Verständnis eines Berufspolitikers. Sie kleben so lange wie möglich am Amt, weil sie keine Alternative haben. In Deutschland gab es in den vergangenen Jahren eine Reihe von Rücktritten von Ministerpräsidenten und sogar von Bundespräsident Köhler. Das sorgte für Erstaunen. Diese Leute hörten auf, um etwas anderes zu tun. Die Politik war nicht ihr einziger Lebensinhalt. Das ist eine ganz neue Entwicklung.

STANDARD: Vergangene Woche ist in Deutschland ein CSU-Sprecher wegen versuchter Einflussnahme auf Medien zurückgetreten. In Österreich stehen hohe Funktionäre, unter anderem der Kanzler, unter Verdacht, sich durch Inseratengeschäfte die Gunst des Boulevards gekauft zu haben. Ist der Verdacht Grund genug, ein Amt abzugeben?

Philipp: Wenn man die Geschichte beobachtet, sieht man, dass für einen Rücktritt häufig nicht der Gegenstand des Vorwurfs, sondern das Krisenmanagement ausschlaggebend ist. Ein Amtsträger muss mit Vorwürfen transparent umgehen, darf keine arrogante Haltung einnehmen und muss sich den Fragen stellen, ohne alles von vornherein abzustreiten.

STANDARD: Der österreichische Kanzler hat sich den Vorwürfen nicht im U-Ausschuss gestellt. Kann er das bis zu den Wahlen in einem Jahr einfach aussitzen?

Philipp: Das ist absolut möglich. Das sah man beim deutschen Kanzler Helmut Kohl, der eine erhebliche Zahl an Skandalen ausgesessen hat und danach wiedergewählt wurde. Wenn ein Politiker fest im Sattel sitzt und Rückhalt in der Bevölkerung und damit in seiner Partei hat, kann das gut funktionieren. Wie er das persönlich erträgt, ist eine andere Frage.

STANDARD: Wie kündigen sich Rücktritte an?

Philipp: Wenn ein Mitglied aus dem Führungskreis der eigenen Partei medial zitiert wird, dass es sich bei bestimmten Vorwürfen um eine ernste Frage handle, die vom betroffenen Politiker aufgeklärt werden müsse, weiß dieser, dass er seine Koffer packen kann.

STANDARD: Das passiert meist spät und selten. Wäre eine gesunde Rücktrittskultur nicht ein Zeichen für funktionierende Demokratie?

Philipp: Absolut. Eine ausgeprägte Rücktrittskultur würde jedem System gut anstehen, da sie eine Reinigungsfunktion hat. Durch einen - ob zu Recht oder zu Unrecht - skandalisierten Politiker wird das Amt beschädigt. Ein neuer Politiker könnte mit einem Vertrauensvorschuss für Bereinigung sorgen. Rücktritte sollten schneller erfolgen, öfter erfolgen und selbstverständlicher sein, als sie es jetzt sind. Doch seit dem Jahr 1950 kam es zu keiner Entwicklung einer Rücktrittskultur.

STANDARD: Nicht nur Skandale können einen Rücktritt fordern. Die österreichische Bevölkerung wird im Jänner über die Abschaffung der Wehrpflicht abstimmen. Ist es ein Rücktrittsgrund für den Verteidigungsminister, wenn sich das Volk gegen sein Modell entscheidet?

Philipp: Etwas gegen die eigene Überzeugung durchsetzen zu müssen ist ein absolut legitimer Rücktrittsgrund. Denn wenn ein Minister es mit seiner politischen Selbstauffassung vereinbaren kann, bei einer so entscheidenden Frage nicht Gestalter, sondern reiner Vollzieher zu sein, wäre das doch sehr erstaunlich. (Katharina Mittelstaedt, DER STANDARD, 3.11.2012)