
Wie immer sang das Publikum die Lieder mit - und Barde Herbert Grönemeyer tat dies sichtlich gut.
Wien - Wenn die noch zu erwartende Lebenszeit überschaubare Ausmaße annimmt, neigt der Mensch dazu, zurückzublicken. Schaut sich doch deutlich angenehmer in diese Richtung: der Leib noch straff und schmerzfrei, die Zukunft eine einzige Verheißung, die Liebe zwar eine heftige Achterbahnfahrt, aber hey, was hat Achterbahnfahren damals noch Spaß gemacht ...
Wenn Herbert Grönemeyer zurückblickt, dann sieht er da zudem noch: sein Werk. Sehr viel Werk natürlich, und einiges davon ist ins kollektive Gedächtnis jener deutschen Zungenschlags eingegangen. Die Verwerfungen in der Gesellschaft hat der aktuell 56-Jährige in seinen Liedern beschrieben und beschrien, vor allem aber natürlich auch die Verwerfungen in seiner ganz persönlichen Gefühlslandschaft: verdammter Foltergeist Liebe!
Bei seiner aktuellen Tour "Blick zurück - 30 Jahre: Halbzeit", die er in für seine Verhältnisse eher intimen Locations absolviert, referiert Grönemeyer natürlich auch schwerpunktmäßig über seine selbstgewählten Qualverwandtschaften: Mit Letzte Version, Bist du taub und Marie singt der Mann mit den interessanten Vornamen dem Publikum im Konzerthaus schon mal drei Lieder davon.
Beim temporeichen Opener - die routinierte Band rockt erdig vor sich hin - sieht man ihn als Rumpelstilzchen mit dem Schellenkranz zu Fisch im Netz in den Fängen der Liebe zappeln, im Zugabenteil beginnt im altehrwürdigen Großen Saal des Konzerthauses zu Ich hab dich lieb das große Chorsingen. Auf den Stehplätzen im Parterre schmust Seligkeit mit Verzückung, Arme werden deckenwärts gereckt, falbes Fleisch wogt schilfrohrgleich im sanften Wind des großen gemeinschaftlichen Glücks.
Kann er es? Er kann es. Elton John schrieb die Liebeslieder für die in den Moonwashed-Jeans, ätzte Moritz von Uslar mal in einer Erzählung aus den späten 1990ern. Für wen schrieb Grönemeyer seine Songs: für die in den Levi's 501? "Für euch alle!", würde er in seinem unverwechselbaren Schreisprech antworten - er ist ja der Einzige, bei dem Kasernenton und lange, laute, gepresste Vokaläußerungen, die an das Tuten von Signalhörnern erinnern, voll okay sind.
"Hab ich die Leiwand-Grenze schon erreicht?", fragt er irgendwann inmitten des Konzerts. Die Antwort ist Kreischen und Toben. Die nächsten 30 Jahre, Heabert, sie können kommen. (Stefan Ender, DER STANDARD, 5.11.2012)