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Regierungschef Ayrault (links) wirft skeptischen Blick auf Gallois und dessen Reformpapier.

Foto: Reuters/Philippe Wojazer

Ein "Wettbewerbsschock" soll die französische Industrie über eine Senkung der Lohnabgaben konkurrenzfähig machen. Das empfiehlt ein Gutachten, das Präsident Hollande als Auftraggeber fast zu weit geht.

 

Paris - Was tun, wenn überall die Fabriken schließen, Arbeiter zu hunderten entlassen werden? Diese Frage prägt in Frankreich seit Monaten die politische Debatte. Seit der Jahrtausendwende hat die französische Volkswirtschaft 700.000 Jobs in der Industrie verloren; Präsident François Hollande zögerte Entscheide nach seiner Wahl vor einem halben Jahr hinaus, die alarmierenden Zahlen von der Arbeitsfront zwingen ihn nun aber zum Handeln.

Als ersten Schritt setzte er im Sommer eine Wettbewerbskommission unter Leitung des früheren Airbus- und EADS-Vorstehers Louis Gallois ein. Der weit herum geachtete Manager und Staatsdiener, früher Chef der französischen Eisenbahn SNCF, nimmt keine falschen Rücksichten. Am Montag legte er einen 40-seitigen Bericht vor, der Hollande kaum in den Kram passt, verlangt er doch nichts weniger als eine volkswirtschaftliche Schocktherapie. Die Lohnnebenkosten der französischen Unternehmen müssten um insgesamt 30 Mrd. Euro gesenkt werden, um die französische Industrie wieder konkurrenzfähig zu machen, rechnet Gallois vor.

Am Montag sprach er gar von der Notwendigkeit eines "Wettbewerbsschocks" , liegen doch die Lohnstückkosten in Frankreich fast zehn Prozent höher als in Deutschland. Noch vor einem Jahrzehnt war dieses Verhältnis umgekehrt gewesen. Nicht von ungefähr sackte die französische Handelsbilanz 2011 mit 70 Mrd. Euro in die roten Zahlen, während Deutschland einen doppelt so hohen Überschuss erzielte.

Die Debatte um den Gallois-Bericht wogte in Frankreich schon Wochen vor seinem Erscheinen hoch. Ein Kollektiv bekannter Konzernchefs plädierte Ende Oktober für eine drastische Senkung der Lohnabgaben und erklärte in einem Manifest: "Wir sind an der Grenze des Ertragbaren angelangt." Der frühere Renault-Chef Louis Schweizer meinte hingegen, die Lohnkosten stellten "nur zehn Prozent des Problems" dar; der Rest beruhe auf fehlender Qualität, zu schwacher Innovation und zu geringem Aufwand für Forschung und Investitionen.

Ähnlich argumentieren die meisten Gewerkschaften; die gemäßigte CFDT räumt immerhin ein, dass die hohen Lohnkosten durchaus "ein Faktor" der nationalen Wettbewerbsfähigkeit seien. Premierminister Jean-Marc Ayrault nahm den Bericht sehr zurückhaltend aus Gallois' Händen entgegen. Hollande ging vorbeugend auf Distanz zur "Idee eines Schocks". Am Montag erklärte er auf einer Asienreise immerhin, er werde aufgrund der Expertise "starke Entscheide" ergreifen.

Ökonomen fragen allerdings, woher der Präsident das nötige Geld nehmen will. Wenn der französische Staat auf 30 Milliarden Euro an Sozial- und Lohnabgaben verzichtet, müsste er andere Steuern im gleichen Umfang erhöhen. Denn schließlich gelobt Hollande das Staatsdefizit zu drücken. Die einzige Alternative wäre, die vergleichsweise hohen Staatsausgaben zu senken. Damit würde Hollande sich aber von den eigenen Wählern entfremden und das sakrosankte Sozialmodell Frankreichs gefährden.

"Hollande und Ayrault sollten sich an die Wahlniederlage von Gerhard Schröder 2005 erinnern", meinte gestern die sozialistische Parteikollegin Marie-Noëlle Lienemann. Damit spielte sie auf die Hartz-Reformen des Ex-SPD-Kanzlers an: Sie veränderten den Arbeitsmarkt ähnlich stark wie dies Gallois nun vorhat; der politische Preis ist aber hoch. Premier Ayrault will erste Entscheide zur Stärkung der Konkurrenzfähigkeit heute Dienstag bekanntgeben. (Stefan Brändle aus Paris, DER STANDARD, 6.11.2012)