Theoretisch standen drei Orte zur Auswahl: Wien, eine Kleinstadt an der serbisch-kroatischen Grenze oder Ljubinkas Geburtsort - die teuerste Variante. Geld war bei dieser Entscheidung, ganz gegen die Familientradition, nicht das vordergründige Argument. Und so fuhr der silbergraue Pick-up des Bestattungsunternehmens von Wien nach R., auf einen kleinen Friedhof im bosnischen Nordosten.
Ljubinka nahm zum Schluss den gleichen Weg wie viele ihrer Landsleute und Gastarbeiter. Die langersehnte - und dem Gastarbeitkonzept immanente - Rückkehr findet schlussendlich in vielen Fällen im Sarg statt.
Doch zurück zum Anfang: Als Österreich und einige andere europäische Länder nach dem Zweiten Weltkrieg einen wirtschaftlichen Aufschwung erfuhren, benötigte man mehr Arbeitskräfte. Im Süden und Südosten Europas lebten Menschen in Armut, die bereit waren, unqualifizierte Tätigkeiten zu übernehmen. Und so entstanden Anwerbeabkommen zwischen Herkunfts- und Gastländern, die die aufkommende Massenmigration regulierten und bestärkten - das Konzept der Gastarbeit war geboren.
Ljubinka war eines von vier Kindern einer bitterarmen bosnischen Bauernfamilie. Alle im Zweiten Weltkrieg und in den Hungerjahren danach geboren, schwärmten sie früh aus: zwei ins nördliche, fruchtbare Slawonien, eine Schwester ins reichere Slowenien. Ljubinka und ihr Mann folgten einem Schwager nach Wien. Sie waren alle jung, tüchtig und übernahmen gerne Arbeiten am Fließband oder am Bau. Ja, es war ein beschwerliches Leben in Substandardwohnungen, aber man hatte einen schlichten Plan: Einige Jahre hart arbeiten, einen Teil des Geldes den Eltern schicken und den größeren für ein Haus, landwirtschaftliche Geräte oder ein kleines Geschäft ansparen.
Rückkehrabsichten hatten die meisten jugoslawischen Gastarbeiter. Unter jenen Menschen, die mit der ersten Gastarbeiterwelle kamen, haben die wenigsten gezielt Deutsch gelernt. An ihren Arbeitsstellen lernten sie ein paar Brocken, die für die Verrichtung der Arbeit notwendig waren. Mit ihren Arbeitskollegen konnten sie meist in ihrer Muttersprache kommunizieren. "Integrative Maßnahmen", wie etwa Sprachkurse, gab es nicht, denn die arbeitenden Gäste sollten eben Gäste bleiben. Als man in Österreich damit begann, Gastarbeiter anzuwerben, ging man von einem sogenannten Rotationsprinzip aus und nahm an, die Gastarbeiter würden in ihre Herkunftsländer zu ihren Familien zurückkehren und neue Arbeitskräfte würden stattdessen nach Österreich kommen.
Jahrzehnte statt Jahre
Für Ljubinka und zehntausende andere kam es ganz anders. Die Geschichte ist bekannt: Aus ein paar Jahren wurden ein paar Jahrzehnte, Kinder wurden in Österreich geboren oder aus der Heimat nachgeholt. Man lebte oft weiterhin beengt und auf Sparflamme, kam in Österreich nie wirklich an. Denn das große Ziel, die Rückkehr, war nun aufgeschoben. "Unten" steckte man das hart erarbeitete Geld in Häuser, die leer standen und auf den Lebensabend der Gastarbeiter warteten.
Ljubinka und ihr Mann bauten sogar zwei Häuser. Das erste wurde im Bosnienkrieg zerstört. Im zweiten Haus, das in den Neunzigern in Serbien gebaut wurde, hat die Familie nicht öfter als ein Dutzend Mal übernachtet. In der Pension sollte aber alles nachgeholt werden: Man würde das Leben endlich genießen, den kleinen Garten bewirtschaften und in dem viel zu großen Haus Kinder und Enkelkinder empfangen.
Doch auch die aufgeschobene Rückkehr wird selten verwirklicht. Jene, die in den 1960er- und 1970er-Jahren nach Wien kamen, sind nun alt geworden, und wegen der jahrelangen, schweren körperlichen Arbeit auch oft sehr krank. Das hiesige Gesundheitssystem, in das sie jahrelang eingezahlt haben, ist zwar schlecht auf sie eingestellt, aber immerhin besser als in den Herkunftsländern. Hier in Österreich leben ihre Nachkommen, die sie bei Bedarf pflegen können. In der alten Heimat steht lediglich das leere Haus. Dort ist man fremd geworden und in Österreich fremd geblieben.
Und so bleibt den Kindern der Gastarbeiter lediglich der Auftrag, die Eltern "zu Hause" zu begraben. (Olivera Stajić, 6.11.2012, DER STANDARD)