Genderforscherin Waltraud Ernst plädiert für mehr Bewusstsein dafür, dass "die Kategorie von Geschlecht nicht festgeschrieben ist".

Foto: Ursula Lücke

Die Frau und die Wissenschaft - ein Verhältnis, das ständig von einem Missverständnis begleitet wird, meint Waltraud Ernst. Denn die weitverbreitete Annahme, dass die Wissenschaft ein wertfreier Raum ist, dem mit der Genderperspektive eine zusätzliche Komponente zugefügt wird, stimme so nicht, sagt Ernst. Vielmehr sei die Wissenschaft immer schon Bestandteil der sozialen Kultur gewesen, und so seien auch "die epochalen Geschlechterverhältnisse" von Beginn an in die Wissenschaft eingeschrieben, erklärte Ernst in ihrem Eröffnungsvortrag zur Veranstaltung "Neue Erfolgschancen durch Genderaspekte in Forschungs- und Innovationsprozessen", die gestern, Dienstag, in Wien stattfand.

Die Philosophin und Literaturwissenschafterin vom Institut für Frauen- und Geschlechterforschung an der Uni Linz beschäftigt sich mit Genderaspekten in Forschung und Entwicklung. "In der Wissenschaft werden oft unbewusst Geschlechterstereotype transportiert, die in anderen gesellschaftlichen Bereichen längst abgebaut sind - da hinkt die Wissenschaft hinterher", meinte sie. Studierende hätten oft kein wissenschaftsgeschichtliches Wissen über ihre Disziplin - "da bräuchte es dringend mehr Bewusstsein", sagte Ernst. Einerseits dafür, dass Wissenschaft ein sozial konstruiertes Produkt ist, anderseits dafür, dass die "Kategorie von Geschlecht nicht festgeschrieben ist". Es gehe darum, eine "bewusst reflektierte, kritische - eben feministische - Geschlechterperspektive" einzubringen.

Die Genderbrille abnehmen

Die Vorstellung, was einen Mann zu einem Mann macht und eine Frau zu einer Frau, verändere sich ständig, sagte Ernst. Sie verwies dabei auf die amerikanische Philosophin und Quantenphysikerin Karen Barad, der zufolge sich die Geschlechter nicht einfach als Differenz denken lassen, sondern einem ständigen "Verschiebungsprozess" unterliegen, in dem das Geschlecht nichts Fixes, sondern permanenter Veränderung unterworfen ist, die ständig neu ausverhandelt werden muss. "Die Konzentration auf zwei Geschlechter wird damit obsolet", sagte Ernst.

"Mir wäre es lieber, man könnte die Genderbrille abnehmen und einfach Menschen betrachten", sagte auch Alexandra Millonig, die im Panel zu Innovationen an der Schnittstelle Genderforschung und Naturwissenschaften und Technik vortrug. Sie analysiert am Austrian Institute of Technology (AIT) das Verhalten von Menschen im Verkehr - ein Bereich, in dem sie immer wieder auf unterschiedliche Muster stößt, die zwar manchmal mit dem Geschlecht zu tun haben, aber nicht ausschließlich. Da der Begriff Gender manchmal Abwehrreaktion hervorrufe, führe sie ihre Forschung nicht unter dem Deckmantel Gender, sondern als "human oriented research".

Millonig betonte, dass jeder Mensch, der mit einem anderem Hintergrund in die Forschung hineinkommt - unabhängig, ob Mann oder Frau - "ein Gewinn und ein kreatives Potenzial ist, auf das man nicht verzichten kann".

"Wir sollten wieder mehr über Sex reden", sagte Wolfgang Polt von Joanneum Research und meinte damit die Differenz von biologischem und sozial konstruiertem Geschlecht. Erst diese Auseinandersetzung habe in den letzten Jahren dazu geführt, dass etwa in der Medizin mittlerweile ein Bewusstsein dafür entstanden ist, dass Krankheiten geschlechtsspezifisch untersucht und diagnostiziert werden müssen.

Die genderadäquate Betrachtung sei zum Beispiel bei Herzinfarkten besonders wichtig, wo lange der männliche Patient als Referenz diente, oder bei Osteoporose, die lange als Frauenkrankheit behandelt wurde.

Auch wenn sich im Geschlechterbewusstsein der Wissenschafter noch einiges ändern muss, hätte die Genderforschung in den letzten Jahrzehnten schon viel bewirkt, ist Ernst überzeugt. In der Technologieentwicklung ist es mittlerweile Usus, dass Männer und Frauen nach ihren Bedürfnissen befragt werden - zuvor wurde das ausschließlich unter Technologen diskutiert.

Frau als Gegenteil von Mann

Dabei sei nur mit Stereotypen gearbeitet worden, und die Berücksichtigung der Bedürfnisse von Benutzerinnen folgte einem einfachen Prinzip, schilderte Ernst: "Einfach das Gegenteil von dem, was Männer brauchen." Sie will nicht von einem Erfolg der Genderforschung sprechen, wenn es "rosarote Handys" oder "feministische Atomkraftwerke" gibt, sondern erst, wenn Frauen gleichberechtigte Teilnehmerinnen von Forschung und Entwicklung sind.

Die Tagung, die im bis auf den letzten Platz besetzten Haus der Forschung stattfand, wurde von der 2006 gegründeten Gender-AG veranstaltet. Träger sind unter anderen die Austrian Cooperative Research, die Christian Doppler Gesellschaft, Joanneum Research, sowie das Verkehrs- und das Wissenschaftsministerium. (Tanja Traxler, DER STANDARD, 07.11.2012)