Walter Michael Palmers beim Prozess im Zeugenstand. Hinter ihm die Entführer Thomas Gratt, Othmar Keplinger, Reinhard Pitsch (v. li.)

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Wien - Grantig war ein Hilfsausdruck. Das Opfer war zwar einige Stunden zuvor unversehrt freigelassen worden, aber von den Entführern fehlte jede Spur. Und der Innenminister sagte wenig. Dem Bundeskanzler platzte der Kragen: "Der österreichische Apparat ist nicht maximal", blaffte Bruno Kreisky in Richtung Innenminister Erwin Lanc.

Einer schrieb damals, vor 35 Jahren, säuberlich mit: Der damalige Handels- und Industrieminister Josef Staribacher führte Tagebuch. Er dokumentierte die dramatischen Tage der Palmers-Entführung, die Nervosität im Ministerrat, die Linksterroristen der RAF ("Rote Armee Fraktion") könnten den "deutschen Herbst" zu einem österreichischen machen.

Tagebücher ausgewertet

Der Wiener Historiker Thomas Riegler hat Staribachers Tagebücher im Bruno-Kreisky-Archiv gehoben und ausgewertet. Dies ist interessant, weil alle Akten der Justiz, inklusive Strafprozess gegen die Entführer, bis Mitte 2020 im Staatsarchiv gesperrt sind. Staribachers Tagebücher geben damit den intimsten Einblick in die damalige Krisensituation.

Riegler zum STANDARD: "Kreisky hatte große Angst, dass der Linksterrorismus in Österreich Fuß fasst." Und er und die Regierung taten alles, "importierte" Terroristen möglichst nach Deutschland abzuschieben - wie Elisabeth Kröcher-Tiedemann, die mit einem Rest der Lösegeldbeute aus der Palmers-Entführung in der Schweiz aufgegriffen worden war.

Terror und Kernkraft

In der Öffentlichkeit stellte Kreisky seine Befürchtungen die Palmers-Entführung betreffend in Abrede: "Es gibt keinen Zusammenhang mit der deutschen Terroristenszene." Intern, im Ministerrat, sprach er anders. Der rote Bundeskanzler sagte am 14. November den legendären Satz: "Es gibt keine Insel der Seligen." Und er zeigte "große Ängste", wie Staribacher notierte, "dass die nächsten Wahlen für uns schlecht ausgehen. Die Bevölkerung fürchtet sich vor dem Kernkraftwerk, dazu kommt jetzt noch die Angst vor dem Terror, und dies geht auf Kosten der sozialistischen Wählerstimmen. Nach seiner Meinung verlieren wir wegen dieser Kombination. Angst vor Terror, Angst vor Kernkraft."

Zumindest mit der Kernkraft sollte Kreisky recht behalten. Doch vorläufig war es die Terrorgefahr, die ihn beschäftigte. Eng stimmte er sich mit dem deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt ab, trotz wiederholter Drohungen der RAF.

Chronologie der Entführung

Am 9. November 1977, gegen halb neun Uhr abends, war der 74-jährige Textilunternehmer Walter Michael Palmers vor seiner Villa in Wien-Währing entführt worden. Knapp vier Tage lang wurde er in einer Wohnung in Wien-Mariahilf, Webgasse 42, im einzigen "Volksgefängnis" der RAF in Österreich, festgehalten. Palmers' Sohn bezahlte, an der Polizei vorbei, rund 31 Millionen Schilling Lösegeld für seinen Vater.

Als Palmers senior am Abend des 13. November in der Nähe eines Hotels in Wien-Hietzing unversehrt freigelassen wurde, mutmaßten Teile der Wiener Polizei, dass die Familie in die Entführung womöglich selbst verwickelt sei. Das trieb Innenminister Lanc im Ministerrat in die Defensive. Denn Kreisky sah die Sache anders.

Staribacher beobachtete den Schlagabtausch genau. Am 18. November schreibt er: "Kreisky erwartet die Befreiung von der bei uns inhaftierten Terroristin (Waltraud) Boock. Da er mit Palmers eine Aussprache gehabt hat, glaubt er allen Ernstes, jetzt besser informiert zu sein als die Polizei und auch die Untersuchung nach seinem Dafürhalten anders führen zu müssen."

Österreich als "RAF-Ruheraum"

In einem Punkt irrte Kreisky: Die RAF sah Österreich nicht als politisches Betätigungsfeld an, sondern als "Ruheraum" zum Zweck logistischer Versorgung. Die Palmers-Entführung war eine "Geldbeschaffungsaktion".

Die Ex-Terroristin Inge Viett schrieb in ihren Erinnerungen 1996: "Wien ist keine Stadt für revolutionäre Aktivitäten. Es ist eine Stadt für Agenten, Ganoven, für Spießbürger und ihre Politiker, gerade richtig für die Entführung eines Industriellen." (Petra Stuiber, DER STANDARD, 9.11.2012)