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Bis zum 20 Kilometer von Nizza entfernten Hochplateau von La Pinée sind die Wölfe inzwischen vorgedrungen.

Foto: APA/dpa/Carsten Rehder

In Utelle lassen sich hungrige Wölfe nur selten blicken. Das beste Restaurant der Gegend ist jedenfalls für Vegetarier.

Foto: Ulrich Willenberg

Marie-Claude ist aufgeregt. "Eben ist ein Wolf vorbeigeschlichen", erzählt die katholische Schwester, die eine Wallfahrtskapelle nahe dem südfranzösischen Bergdorf Utelle betreut. Nun läuft sie hinüber zur Schäferin Céline, um sie zu warnen. Die junge Frau, die in der Nähe mehrere hundert Schafe hütet, ist Angriffe der Wölfe inzwischen gewohnt. "Gestern hat ein Wolf versucht, ein Lamm zu reißen", erzählt sie. Am Abend wird sie die Herde in einen Pferch unten im Tal treiben.

Bis vor einigen Jahren war das nicht nötig. Menschen hatten die Raubtiere in den französischen Seealpen ausgerottet. Das letzte Exemplar wurde 1932 abgeschossen. Doch seit den 1990er-Jahren wandern Wölfe wieder von Italien ein und vermehren sich offenbar prächtig. Rund 200 sollen durch die Bergregion nördlich der Côte d'Azur streifen. Doch nicht bei allen Bewohnern ist das mystifizierte wie verhasste Tier willkommen. Während die Tourismusbranche den Wolf als Werbeträger entdeckt hat, fürchten manche Schäfer um ihre Existenz, da sich die Attacken seit 2008 verdoppelt haben.

Einsam wie ein Wolf

Bis zum 20 Kilometer von Nizza entfernten Hochplateau von La Pinée sind die Wölfe inzwischen vorgedrungen. Hier liegt die Wallfahrtsstätte Notre-Dame-des-Miracles. Deren Grundstein legten um 850 spanische Seefahrer zum Dank für ihre Rettung aus Seenot. Doch auch für weniger fromme Menschen lohnt die Fahrt vom spektakulären Vésubie-Tal über viele Haarnadelkurven hinauf zu der auf 1200 Meter hoch gelegenen Kapelle. Von hier oben bietet sich einer der schönsten Ausblicke der Seealpen. An klaren Tagen sind die Fähren zu erkennen, die von Nizza nach Korsika auslaufen, und im Norden thronen die bis zu 3000 Meter hohen schneebedeckten Gipfel des Mercantour.

Schwester Marie-Claude lebt als einzige das ganze Jahr hier. Im Winter ist das hart. Der Schnee liegt manchmal hoch, und die steile, enge Straße hinab in den nächsten Ort Utelle ist oft vereist. Gäste sind selten in dieser Zeit. "Manchmal fühle ich mich einsam", sagt sie. Angst vor Wölfen muss sie aber nicht haben. Menschen gehören nicht zur Beute der Raubtiere. Dafür neben Schafen und Rindern auch Haustiere.

Der Koch Sylvain Moreau hat durch einen Wolf eine seiner Katzen verloren. Er betreibt einige Kilometer unterhalb der Kapelle ein hervorragendes Restaurant und wirbt mit Menüs für den Wolfshunger. Rohes Fleisch wie Wölfe es mögen, findet sich nicht auf der Speisekarte, dafür vegetarische Gerichte, eine Rarität in Frankreich. Das Gemüse kommt aus seinem Garten, ebenso die Brennnesseln, mit denen er Crêpes füllt.

Sein Gasthof gehörte früher einem Schafzüchter. In Zukunft könnten aber noch mehr von ihnen den Beruf aufgeben, wenn die Wölfe sich weiter vermehren. Vielleicht bedarf es ja wieder eines Wunders wie vor langer Zeit, als Utelle angeblich von einem Drachen bedroht wurde. Damals rettete der Heilige Véran die Bewohner vor dem Untier, deshalb ist die prachtvolle barocke Kirche des Dorfes dem Heiligen geweiht. Bis heute hat sich der zwischen hohen Bergen eingebettete, rund 500 Seelen zählende Ort weitgehend seinen mittelalterlichen Charakter bewahrt.

Gezähmte Wildnis

Utelle ist ein beliebtes Etappenziel an einem Fernwanderweg. Die Route führt von Nizza an den Genfer See und kreuzt dabei den französischen Nationalpark Mercantour. Hier leben die meisten Wölfe der Seealpen. Die Chance, sie in freier Wildbahn zu beobachten, ist jedoch sehr gering. Wer die Raubtiere aus der Nähe sehen will, kann aber den Wolfspark "Alpha" bei Saint-Martin-Vésubie besuchen. Rund 30 Exemplare leben dort in einem weitläufigen Waldgelände hinter hohen Zäunen. Dort werden sie einmal täglich mit frischem Rindfleisch gefüttert. Das wissen auch die Wölfe, die schon vorher ungeduldig um den Fressplatz streifen.

Nur wenige Tage nachdem Schwester Marie-Claude einem Wolf begegnete, erschossen Jäger ganz in der Nähe ein weibliches Tier, das zuvor ein Lamm angegriffen hatte. Es war der erste legale Abschuss seit der Rückkehr der Wölfe in die Seealpen, meldete die örtliche Tageszeitung nice-matin und widmete dem Thema die ersten drei Seiten. Die Jagd ist allerdings umstritten: "Die Sache wird hochgespielt. Die getöteten Schafe wurden nur nicht richtig bewacht", glaubt etwa der Gastwirt Sylvain Moreau.

Wolfsfreunde sehen dies ähnlich. "Der Abschuss ist nicht die Lösung", meint Pierre Ahanaze von Aspas, einer Vereinigung zum Schutz wilder Tiere. "Wenn man einen dominanten Wolf erschießt, dann desorganisiert man das Rudel. Es kommt dadurch zu mehr Attacken", meint Ahanaze. (Ulrich Willenberg, Album, DER STANDARD, 10.11.2012)