Der britische SF-Autor Charles Stross bekennt sich - wie im übrigen die meisten seiner Kollegen - dazu, für seine Romane entweder Szenarien aus der unmittelbaren oder einer sehr weit entfernten Zukunft zu bevorzugen. Für erstere braucht man nur sein Ohr am Puls der Zeit zu haben und gegenwärtige Trends ein oder zwei Schritte weiterzuschreiben (wie in Stross' Roman "Du bist tot"), für letztere hat man mehr oder weniger die totale Freiheit.
Schwierig ist das Dazwischen, die mittlere Zukunft. Nachdem Stross in seinem Blog "Charlie's Diary" bereits nicht-literarische Spekulationen über die Welt in 30 bzw. 80 Jahren angestellt hatte, wagte er sich zuletzt auch auf dieses Gelände. Unvorhersehbare einschneidende Veränderungen bleiben in seinem Szenario 2512 ausgespart - auch etwaige technologische Singulariäten, wie er sie in seinen Erfolgsromanen "Accelerando" oder "Singularität" schon selbst entworfen hatte.
Statt dessen versucht Stross eine lineare Entwicklung weiterzuschreiben - was schwierig genug ist, wenn man auf der Zeitskala einen ebenso langen Zeitraum zurückgeht und sich ansieht, wie wenige Institutionen von 1512 bis heute überdauert haben. Mit ein Grund wohl, warum Stross eher daran glaubt, dass es 2512 noch das japanische Kaiserhaus gibt, als dass Staaten wie die USA, Großbritannien und China dann noch existieren würden. Klimawandelbedingte Veränderungen im Lebensraum würden sich auf die geopolitische Aufteilung der Welt auswirken - und überhaupt sei der Nationalstaat ein Konzept des 19. Jahrhunderts und werde schon den heutigen Gegebenheiten einer global vernetzten Welt nicht mehr gerecht.
Der bereits in zahlreichen Postings kommentierte Blogeintrag dreht sich weiters um den Einsatz von Biotechnologie, um mit den Folgen einer massiven Klimaerwärmung fertig zu werden (in Sachen menschliche Vernunft und Abkehr von fossilen Brennstoffen ist Stross mehr als skeptisch). Doch nicht nur die Pflanzenwelt der Zukunft würde heutigen Betrachtern exotisch erscheinen, ganz generell wäre die Welt von 2512 laut Stross kaum noch wiederzuerkennen. Und das, obwohl Stross auf wilde Spekulationen - seien es der Kontakt mit Aliens, Singularitäten und ähnliches SF-Inventar - komplett verzichtet.
Bliebe aus unserer Gegenwart also gar nichts erhalten? Zumindest eines doch, glaubt Stross und nennt ein wenig überraschend den Feminismus: Solange der demografische Übergang (von hohen zu niedrigen Geburts- und Todesraten) nicht durch irgendwelche Katastrophen rückgängig gemacht werde, sei die gesellschaftliche Entwicklung zur Gleichstellung von Mann und Frau ein historischer "one-way shift" wie einst in der Jungsteinzeit der Übergang von Jäger-Sammler-Gesellschaften zur Landwirtschaft.
(red, derStandard.at, 17. 11. 2012)